Stadtarchiv StraelenEine Puppenwiege als Zeitzeugnis
Vor einiger Zeit meldete sich telefonisch eine Dame aus Bocholt im Stadtarchiv Straelen. Sie erzählte, ihre Mutter, eine gebürtige Straelenerin vom Jahrgang 1927, sei verstorben und man sei dabei, ihren Nachlass zu verwalten. Darunter befinde sich eine Puppenwiege, mit der die Mutter und vor allem deren jüngere Schwester als Kinder gespielt hätten. Das Besondere daran sei aber, dass die Wiege ursprünglich einer jüdischen Familie aus der Nachbarschaft gehört habe. Die Mutter habe immer viel davon erzählt und man wolle nun das Spielzeug zurück nach Straelen geben. Es stellte sich heraus, dass die ehemalige Besitzerin der Puppenwiege eine geborene Irmgard Holla war. Sie wohnte mit ihrer älteren Schwester Maria und der 1938 geborenen jüngsten Schwester Ursula, genannt Ulla, Ende der 1930er Jahre auf der Venloerstraße Nr. 30 in Straelen. Dort unterhielten die Eltern, Malermeister Hubert Holla und seine Frau Hubertine ein Malergeschäft. Im Haus mit der damaligen Adresse Venloerstraße Nr. 20 wohnte vorübergehend die Familie Mendel, nämlich die Eheleute Oskar und Sophia mit ihren Kindern Hans (Jahrgang 1912), Ilse (Jahrgang 1914) und Nesthäkchen Edith (Jahrgang 1921). Die Zählweise der Hausnummern hat sich im Laufe der Zeit verändert. Anfang der 1940er Jahre wohnte die Familie Mendel bereits in der Bahnstraße Nr. 9. In dieser Zeit waren die Töchter der Mendels auf jeden Fall schon zu groß, um mit Puppen zu spielen. Ich möchte mir vorstellen, dass die Puppenwiege darum an die ehemalige Nachbarsfamilie Holla weitergegeben wurde, zumal dort die dritte Tochter Ulla angekommen war. Vater Holla hat 1942 vielleicht zum vierten Geburtstag den Schriftzug mit dem Namen der Vorbesitzerin, möglicherweise ILSE, was auch aus vier Buchstaben besteht, übermalt und seine Jüngste dort verewigt. Viel wahrscheinlicher ist aber leider, dass es einen anderen Grund für Familie Mendel gab, sich von dem Spielzeug zu trennen. Durch die schrecklichen Ereignisse während der Zeit des Nationalsozialismus wurde die Familie getrennt. Hans und Ilse flohen aus Angst vor Verfolgung 1938 nach Amerika; sie forderten die restliche Familie auf, ebenfalls zu emigrieren. Die Familie jedoch weigerte sich. Sie waren überzeugt, ihnen würde in Straelen nichts passieren. Oskar und Sophia Mendel wurden am 11.12.1942 ins Ghetto nach Riga-Salaspils deportiert und später für tot erklärt. Edith Mendel wurde zuletzt Steine schleppend am Bahnhof in Riga gesehen. 1943 wurde sie im Konzentrationslager Stutthof ermordet. Die Puppenwiege ist ein Zeitzeuge der Vorgänge im Dritten Reich in Straelen und sie hat den Weg zurück hierher gefunden.
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