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Die Fassade eines Gebäudes ist abgebildet.

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im Rheinland

3. Juli 1912: Eröffnung der Provinzial-Heil- und Pflegeanstalt Bedburg-Hau

Die reichsweit größte Einrichtung ihrer Art nimmt ihren Betrieb auf

Am 3. Juli 1912 wurde die damals größte psychiatrische Klinik des Deutschen Reiches, die „Provinzial-Heil- und Pflegeanstalt Bedburg-Hau“ in Anwesenheit zahlreicher hoher Beamter und Ehrengäste feierlich eröffnet. Dieses Ereignis markiert einen Höhepunkt in der Umsetzung der Fürsorge für psychisch Kranke in der Rheinprovinz und auf Jahrzehnte hinaus das Ende der Gründung so genannter „Provinzial-Heil- und Pflegeanstalten“ (= PHPs) durch den Rheinischen Provinzialverband. Wer heute die nur wenige Kilometer südlich von Kleve gelegene LVR-Klinik Bedburg-Hau besucht, wird immer noch beeindruckt sein von der Weitläufigkeit des im Grünen gelegenen Ensembles älterer und neuerer Gebäude, die die Tradition einer zeitgemäßen psychiatrischen Versorgung bis in die Gegenwart hinein fortführen.

Die Sorge für psychisch Kranke, in der zeitgenössischen Terminologie des frühen 20. Jahrhunderts als „Geisteskranke“ oder „Irre“ bezeichnet, gehört zu jenen Bereichen, um die sich die rheinische Provinzialverwaltung bzw. der Rheinische Provinziallandtag seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in intensiver Weise kümmerten.

Bereits die „Provinzial-Irren-Heilanstalt“ auf dem Abteiberg in Siegburg (1825–1878) hatte therapeutisch wie gesundheitspolitisch Akzente gesetzt. Der erhebliche Anstieg der Zahl psychisch Kranker in der Rheinprovinz mündete 1865/66 in ein umfassendes Reformprogramm, welches für jeden rheinischen Regierungsbezirk die Neugründung so genannter verbundener, d.h. „unheilbare“ und „heilbare“ Kranke umfassender, Provinzial-Heil- und Pflegeanstalten vorsah. Nach der Auflösung der nur auf die Behandlung „heilbarer“ Kranker ausgerichteten „Provinzial-Irren-Heil-Anstalt“ in Siegburg auf Grund baulicher Mängel und ungenügender Aufnahmekapazitäten entstanden zwischen 1876 und 1882 fünf neue PHPs in Andernach, (Düsseldorf-)Grafenberg, Merzig, Düren und Bonn. Diese Anstalten waren überwiegend nach dem so genannten Korridorsystem gebaut, welches die Räumlichkeiten entlang großer Flure und ohne größere Freiräume für die Patienten vorsah.


Schon wenige Jahre später zeigte sich, dass auch diese Kliniken dem Bedarf nicht genügen konnten, so dass der Rheinische Provinziallandtag im Jahre 1897 den Ausbau der vorhandenen und die Gründung zweier neuer PHPs in (Langenfeld-)Galkhausen (eröffnet 1900) und (Viersen-)Süchteln (eröffnet 1902) beschloss. Diese Anstalten waren bereits nach dem so genannten Offentürsystem bzw. Pavillonsystem gestaltet, geprägt durch mehr Patientenfreiräume und im Gelände gruppenweise verteilte Villen je nach Krankenheitsformen ausgerichtet. Hier wirkte sich bereits konkret ein Umdenken in der Behandlungsmethodik aus, welches u.a. auch einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen Behandlung und Umgebung herstellte. Alle PHPs umschrieben einen regionalen Zuständigkeitsbereich, wobei die Großstadt Köln Kranke sowohl in die Klinik Bonn wie in jene von Galkhausen einlieferte.

Die Folgen von Industrialisierung, Proletarisierung, sich dramatisch verändernder sozialer und familiärer Zusammenhänge, aber auch das verstärkte Auftreten „nervöser“ Erkrankungen führten schnell nicht nur zu einer starken Auslastung der PHPs, sondern auch zu der Erkenntnis, eine weitere große PHP bauen zu müssen. Zusätzlicher Druck entstand dadurch, dass mehrere hundert Kranke aus den aufzulösenden Pflegeanstalten in Düsseldorf (Departemental-Irrenanstalt) und Köln-Lindenthal anderweitig unterzubringen waren. Auch gesundheitspolitisch hatte sich beim Provinzialverband mittlerweile der Akzent verschoben: Im Gegensatz zu der noch in den PHPs Grafenberg und Süchteln geübten Praxis, keine „unheilbaren“ Fälle, also Pflegefälle, aus privaten Kliniken aufzunehmen, sollte dies bei der neuen PHP durchaus der Fall sein, und damit der beträchtlichen Verlegung solcher Kranker in Privatanstalten entgegengesteuert werden. Dies ist sicherlich auch eine Konsequenz aus dem wenige Jahre zuvor aufgetretenen so genannten Alexianerskandal gewesen, als in der konfessionellen Pflegeanstalt der katholischen Ordensgemeinschaft der Alexianerbrüder in Aachen Missstände aufgedeckt worden waren, die sogar den Preußischen Landtag in Berlin beschäftigten. Der Provinzialverband verstärkte seitdem seine Kontrolle nicht-eigener Anstalten und revidierte seine Belegungspraxis.


Der 48. Rheinische Provinziallandtag beschloss jedenfalls am 12. März 1908 den Bau einer neuen PHP mit 2200 Betten, um so den geschätzten Bedarf für mehrere Jahre zu decken. Der bisher gepflegte Grundsatz, für die PHPs maximal 800 Betten anzusetzen, war damit deutlich außer Kraft gesetzt. Neu war auch der Ansatz, nur eine Verpflegungsklasse anzubieten – zahlungskräftige Kranke sollten andere psychiatrische Anstalten in Anspruch nehmen. Als Standort wurde schließlich nach durchaus heftigem Wettbewerb mehrerer Kommunen ein südwestlich von Kleve gelegenes Gelände ausgewählt, welches vor allem aus Wald, Heide und Ackerland bestand. Die Bauarbeiten schritten zügig voran, ein Gebäude nach dem anderen nahm Gestalt an. Im März 1912 war auch der neue Bahnhof „Hau“ fertig gestellt – eine in ihrer Bedeutung kaum zu unterschätzende Erleichterung hinsichtlich der Belieferung der Klinik mit Waren, aber auch des Krankentransportes. Verwirrung stiftete in dieser Frühzeit vor allem die Benennung des Bahnhofs („Hau“) wie auch der Klinik („PHP Bedburg Kr. Cleve“). Es kam tatsächlich vor, dass Reisende zunächst nach Bedburg im Kreis Bergheim fuhren und dann erst einen Tag später ihr eigentliches Ziel erreichten. Die Ende 1912 eingeführte Bezeichnung „PHP Bedburg-Hau“ schaffte dann Eindeutigkeit.

Bereits am 1. Oktober 1911 wurde der Teilbetrieb der PHP mit Überführung der ersten Kranken begonnen. Bewusst wurde darauf geachtet, dass mindestens ein Drittel von ihnen als Arbeitskräfte einsetzbar sein sollten. Dies war wohl auch um so mehr nötig, als offensichtlich mehrere PHPs, die Kranke an die neue Einrichtung abgaben, die Gelegenheit nutzten, sich besonders schwerer Fälle zu entledigen. Zum Aufnahmebezirk der neuen PHP Bedburg-Hau gehörten die Land- bzw. Stadtkreise Kleve, Geldern, Moers, Rees, Hamborn, Dinslaken, Oberhausen, Mülheim a.d. Ruhr und Duisburg. Am 31. März 1914 befanden sich bereits 1841 Patientinnen und Patienten in der Anstalt.


Im Hinblick auf die medizinische Behandlung versuchte man auf der Höhe der Zeit zu bleiben, beschrieb die ärztliche Behandlung als „in der bewährten Form“ durchgeführt. Intensiv wurden Bäder als therapeutische Maßnahme eingesetzt (Wassertherapie, aber auch Vierzellen-Bad, elektrisches Wannenbad, Lichtbad). Die ausgedehnte Land-, Forst-, Garten- und Viehwirtschaft sowie die Handwerksbetriebe boten genügend Gelegenheit zur Beschäftigung. Geradezu fabrikmäßig wurden Tütenkleberei, Kartonagefabrikation und Bürstenbinderei betrieben. Gut 60 Prozent der Kranken fanden so eine Beschäftigung und erzielten zudem Einnahmen für die Klinik. Neben der Arbeitstherapie lag ein besonderes Augenmerk zunächst auch auf der Familienpflege, wobei eine allerdings geringe Zahl von Patientinnen und Patienten bei Stationspflegern untergebracht wurden. Bauern der Umgebung, die vielleicht Interesse an „billigen Knechten“ gehabt hätten, wurde dies wegen des Verdachts einer unbilligen und schädlichen Ausnutzung der Arbeitskraft verweigert.

Neben der Arbeit wurde auch der Freizeitbeschäftigung als therapeutisches Moment Beachtung geschenkt: Es gab eine Anstaltskapelle, einen gemischten Sängerchor, Theateraufführungen und Tanzveranstaltungen, Waldfeste mit Spielen und Kirmestreiben. Der Geburtstag des Kaisers am 27. Januar wurde ebenso gefeiert wie der Karneval.

Der Blick richtete sich aber bereits in diesen frühen Jahren auch auf die Fürsorge für die Geisteskranken nach ihrer Entlassung. Der 1900 gegründete „Hilfsverein für Geisteskranke in der Rheinprovinz“, der es sich zur Aufgabe machte, unter anderem den aus den Anstalten Entlassenen im Fall der Hilfsbedürftigkeit zur Seite zu stehen, gründete in der PHP Bedburg-Hau eine Anlaufstelle, bei der die Gemeinden des Aufnahmebezirks bedürftigte Angehörige melden konnten. Hilfsbedürftige entlassene frühere Pfleglinge und deren in Not geratene Angehörige wurden unterstützt, indem man ihnen Beihilfen gewährte.

Am 3. Februar 1912 wurde in der PHP Bedburg-Hau zudem ein so genanntes Bewahrungshaus eröffnet, welches der Unterbringung „krimineller Geisteskranker“ dienen sollte. Diese Forensik, wie man heute sagen würde, war die dritte in der Rheinprovinz nach jenen in der PHP Düren und in der Provinzial-Arbeitsanstalt in Brauweiler bei Köln.


Ein Problem für sich stellte in den Gründungsjahren der PHP Bedburg-Hau die Gewinnung geeigneten Personals dar. Trotz intensiven Inserierens in lokalen und überregionalen Blättern waren Anfang Oktober 1911 noch nicht alle Stellen besetzt, und etwa zwei Fünftel des Pflegepersonals bestanden aus Lernpflegerinnen. Schließlich mussten die anderen PHPs sogar angewiesen werden, Lernpflegerinnen an Bedburg-Hau abzutreten, wobei versucht wurde, diesen Schritt durch die Aussicht auf kurzfristige Beförderung zu Pflegerinnen zu motivieren. Gleichwohl zeigte sich ein deutlicher Mangel an Pflegepersonal, es gab nur relativ wenige ältere Pfleger und Pflegerinnen, und das Hilfspersonal bestand überwiegend aus frisch eingestellten jungen Leuten, die noch niemals zuvor mit psychisch Kranken in Berührung gekommen waren. Entsprechend hoch war die Fluktuation: In den ersten Jahren verließen bis zu zwei Drittel des Pflegepersonals „freiwillig“ die PHP, und einem anderen Teil musste vor allem wegen mangelnder Eignung gekündigt werden.

Kaum hatte der Betrieb der neuen Klinik Tritt gefasst, unterbrach der Ausbruch des Ersten Weltkriegs am 1. August 1914 die weitere Entwicklung. Umfangreiche Einberufungen, anteilige militärische Nutzung, die mit dem Kriegsverlauf durchschlagende Absenkung von Standards der Ernährung, Pflege und Therapie unterbanden die mit der Gründung verknüpften Hoffnungen. Es sollte noch Jahre dauern, bis die PHP Bedburg-Hau ihrem vorgesehenen Zweck in vollem Umfang genügen konnte.


Weiterführende Quellen und Literatur:

  • Bestände „Psychiatrie und Erweiterte Armenpflege“ bzw. „Provinzial-Heil- und Pflegeanstalt Bedburg-Hau“, Nrr. ALVR 7929, 14362, 14646, 14749, 23005, 23011, 23094, 23124, 44989, 44992
  • Verhandlungen des 47. Rheinischen Provinziallandtags vom 10. bis 16. März 1907 (Düsseldorf o.J.)
  • Verhandlungen des 51. Rheinischen Provinziallandtags vom 5. bis 11. März 1911 (Düsseldorf o.J.)
  • Verhandlungen des 52. Rheinischen Provinziallandtags vom 3. bis 9. März 1912 (Düsseldorf o.J.)
  • Bericht des Provinzialausschusses der Rheinprovinz über die Ergebnisse der Provinzialverwaltung 1.4.1911–31.3.1912 (Düsseldorf o.J.)

  • Bresler, Johannes: Denkschrift zur Feier der Eröffnung der achten Provinzial-Heil- und Pflegeanstalt Bedburg (Kr. Cleve), in: Psychiatrisch-neurologische Wochenschrift 14 (1912/13), S. 219–224, 235–239, 248–253, 265–266, 277–289
  • Denkschrift zur Eröffnung der achten Provinzial-Heil- und Pflegeanstalt Bedburg (Kr. Cleve) (Düsseldorf 1912)
  • Rheinische Anstaltspsychiatrie. Festschrift zum 50jährigen Bestehen des Rheinischen Landeskrankenhauses Bedburg-Hau (Köln 1962)
  • Rheinische Provinzial-Heil- und Pflegeanstalt Bedburg-Hau, in: Johannes Bresler (Red.), heil- und Pflegeanstalten für Psychischkranke in Wort und Bild (Halle a.d.S. 1914), S. 101–134
  • Schaffer, Wolfgang u.a. (Hrsg.): 100 Jahre LVR-Klinik Bedburg-Hau. Von der Provinzial-Heil- und Pflegeanstalt zur LVR-Klinik. Festschrift zum 100-jährigen Bestehen 1912–2012 (Essen 2013)

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