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Weihnachten und andere Festivitäten in den Gehörloseneinrichtungen des Provinzialverbandes

Der Landschaftsverband Rheinland (LVR) betreibt heute eine Vielzahl an Einrichtungen für Gehörlose und Hörgeschädigte und bietet Beratung und Unterstützung an. Bereits unter seinem Vorgänger, dem Provinzialverband der Rheinprovinz, gab es sogenannte „Taubstummenanstalten“. [1]

Kleinere dieser Einrichtungen für Gehörlose wurden in den 1830er bis 1850er Jahren in Moers, Kempen, Neuwied und Brühl errichtet. 1874 wurden sie unter die Verwaltung des Provinzialverbandes gestellt, was größere finanzielle Zuschüsse bedeutete und den Bau neuer Einrichtungen ermöglichte. Im Jahr 1925 gab es insgesamt neun „Taubstummenanstalten“ in Aachen, Brühl, Elberfeld (heute Wuppertal), Essen, Euskirchen, Kempen, Köln, Neuwied und Trier. Dem Wesen nach waren diese Einrichtungen Schulen, manche auch mit angeschlossenem Internat. Schüler*innen, die nicht zu Hause wohnen konnten, wurden dort oder bei Pflegeeltern, in Kinderheimen und anderen Einrichtungen der Kirche untergebracht. [2]


Unterrichtet wurde in den Schulen nach der „deutschen Methode“. [3] Das bedeutet, dass den Kindern das Sprechen der Lautsprache und das Ablesen von den Lippen beigebracht wurde, jedoch keine Gebärdensprache („französische Methode“), weil sie als nicht vollwertig, sondern vielmehr als Hindernis in Bezug auf ein „normales“ Leben galt. [4]

In den Einrichtungen des Provinzialverbandes und den existierenden Vereinen für Gehörlose versuchte man stets, den gehörlosen Menschen - und dies meint nicht nur Kinder und Jugendliche, sondern auch Erwachsene - eine Freude zu Weihnachten zu organisieren; selbst in wirtschaftlich schwierigen Zeiten. Die Überlieferung der Einrichtungen zeigt, was unternommen wurde, um das nötige Geld dafür aufzubringen. Es gibt ganze Akten über „die Weihnachtsbescherung der Zöglinge“ [5] mit diversen Bitten zur Finanzierung an die Behörden [6]. Im Jahr 1885 gründeten die Witwe sowie Kinder des selbst gehörlosen Simon Hirschland eine Stiftung, die den Kindern der Essener Gehörlosenschule zu Gute kommen sollte.

Gelder aus dieser Stiftung wurden z.B. dazu verwendet, den Schüler*innen eine Weihnachtsbescherung zu ermöglichen. [7] In den frühen Jahren der Gehörlosenschulen scheint die Genehmigung von Zuschüssen für die Weihnachtsfeiern insgesamt aber noch kein Problem gewesen zu sein.


Schwieriger wurde die Situation während der Weltkriege und in den Zwischenkriegsjahren. Ein Schriftwechsel aus Köln aus dem Jahr 1918 verdeutlicht dies: „So sind Bekleidungsgegenstände, Süßigkeiten und Obst überhaupt nicht zu beschaffen, und für Spielsachen und dergleichen müssen unerschwingliche Preise bezahlt werden. Aus diesem Grund ist das Lehrerkollegium der Anstalt der Ansicht, daß in diesem Jahre von einer Weihnachtsbescherung Abstand genommen werden müsse.“ [8] Der Landeshauptmann empfahl eine Nachfrage beim Lebensmittelamt, ob dieses für die Schüler auch ohne Marken etwas beschaffen könne. [9] Ob die Bescherung noch stattfinden konnte, ist leider nicht überliefert. Aus Essen liegen aus den zwanziger und dreißiger Jahren drei liebevoll gestaltete Spendenaufrufe für die Weihnachtsfeier der gehörlosen Schüler*innen vor, jeweils mit einem Gedicht und einer kleinen Illustration versehen. [10]

Aus Köln ist ein Schriftwechsel aus dem Jahr 1938 überliefert, der zeigt, dass die Mitglieder der „Seelsorgegemeinschaft der katholischen Taubstummen“ von der „Taubstummenhilfe“ Weihnachtspakete bekamen. Die meisten Gehörlosen haben sich Lebensmittel gewünscht, es gab aber auch Wünsche nach Sachgeschenken wie Kleidung, Fußballschuhen und Geldbeuteln. [11] 1932 bekamen die Gehörlosen bei einer Weihnachtsfeier in Köln „der Notzeit entsprechend“ Folgendes:

„1 Pfund gute Butter, 2 Pfund Erbsen, 2 Pfund Karotten, 1 Pfund Cervelatwurst, 1 Pfund Schinkenplockwurst, 1 Pfund Braunschweiger Mettwurst, 2 Pfund Apfelmus, 12 Pfund Bohnenkaffee, 12 Pfund Kakao, 5 Paar Heine’s Würstchen, 1 Dose Allgäuer Frühstückskäse, 1 Stange Knorr-Suppenwürfel, 1 Kg Mehl, Zigarren, Zigaretten. Außerdem gelangen zur Verteilung Stoffe für Tag- und Nachthemden, einzelne Wäschestücke, für die Jugendlichen Gamasche, Brotbeutel, Taschenmesser usw. Die Kinder erhalten eine Tüte Süßigkeiten.“ [12]


Der Wunsch nach haltbaren Lebensmitteln verdeutlicht, wie angespannt die Versorgungslage der Menschen war. Die Akten der Essener Gehörlosenschule illustrieren dies auch noch auf andere Weise. Einige Schriftstücke berichten so von Schwierigkeiten bei der Lohnauszahlung oder betreffen massive Einsparungen. [13]

Weihnachten war in den Einrichtungen, Schulen und Vereinen nicht die einzige Gelegenheit, zu der etwas Besonderes organisiert wurde. In Essen gab es auch Feierlichkeiten zu den Konfirmationen der Kinder. In der Kaiserzeit wurde am 2. September der Sedantag in Erinnerung an den Sieg Deutschlands über Frankreich in der Schlacht von Sedan 1870 begangen. Auch der Geburtstag des Kaisers, des Reichskanzlers Bismarck, der Jahrestag der Reichsgründung und sogar die hundertjährige Zugehörigkeit zu Preußen im Jahr 1902 wurden in der Essener Gehörlosenschule gefeiert. Zu solchen Gelegenheiten wurden z.B. Ausflüge unternommen. Die Feierlichkeiten wurden von der Obrigkeit strikt angeordnet und auch großzügig bezuschusst. Oft gab es genaue Instruktionen, wie der Tag im Unterricht vorzubereiten oder zu begehen war. [14] So bat der Essener Oberbürgermeister den Direktor der Gehörlosenschule Ochs, die Kinder daran zu erinnern, dass sie bei der „Spalierbildung vor Sr. Majestät dem Kaiser und Ihrer Majestät der Kaiserin […] jegliches Fahnenschwenken während der Vorüberfahrt der Majestäten unterlassen möchten“. [15]

Die Überlieferung der Einrichtungen für Gehörlose zeigt insgesamt einen liebevollen Umgang und eine Wertschätzung der gehörlosen Menschen. Im Jahr 1938 wurde das hundertjährige Bestehen der Aachener „Taubstummenanstalt“ und des dortigen „Vereins Taubstummenhilfe“ gefeiert. Es gab einen Festakt mit Orchester, Chor und „Sprechproben“ [16] der Schüler*innen.

Eine Festschrift zu diesem Ereignis beschreibt detailliert die Geschichte der Schule und des Vereins sowie den Unterricht der gehörlosen Kinder in der Lautsprache und dem Ablesen von den Lippen. Die letzten Absätze bilden eine Art Plädoyer für die Gehörlosen und ihren Platz in der Gesellschaft. Es wird herausgestellt, dass sie, wenn sie in der Schule entsprechend ausgebildet würden, ebenso in der Lage seien zu arbeiten wie hörende Menschen. Daher sei die Investition in die teurere und aufwendigere Schulbildung der Gehörlosen gerechtfertigt. Die Festschrift endet mit dem Appell „Hörende Volksgenossen, laßt uns zeigen, was wir leisten können – und gebt uns Arbeit!“ [17].

1938 erlangten diese Ausführungen angesichts des Umgangs des NS-Regimes mit Behinderten, der bis zur Vernichtung der Menschen führen konnte, auch bei den Vorgängern der heutigen LVR-Einrichtungen eine ganz besondere Brisanz. Aber bis heute haben sie ihre Gültigkeit und ihre Wichtigkeit nicht verloren.

(Bearbeitung: Melanie Nagel)

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[1] Der heute verwendete Begriff „gehörlos“ war zu den Zeiten, die in diesem Text beschrieben werden, nicht üblich. Meyers Großes Konversationslexikon von Anfang des 20. Jahrhunderts führt diesen Begriff nicht. Benutzt wurde das Wort „taubstumm“. In Meyers Lexikon werden damit in Hinblick auf angeborene Gehörlosigkeit geistige Einschränkungen und körperliche Deformität verknüpft. Vgl.: Artikel „Taubstummheit“, in: Meyers Großes Konversationslexikon. Ein Nachschlagewerk des allgemeinen Wissens. Sechste, gänzlich neubearbeitete und vermehrte Auflage, Leipzig und Wien 1905-1909, Band 6, Spalte 348f..

Heute wird das Wort „taubstumm“ mit einer Abwertung verbunden und sollte daher nicht benutzt werden. Gehörlose sind nicht stumm, sondern können in der Gebärdensprache und auch in der Lautsprache sprechen. Angemessenere Ausdrücke sind „gehörlos“ oder „taub“. Vgl.: http://www.gehoerlosen-bund.de/faq/gehoerlosigkeit, Seite besucht am 17.11.20.

In diesem Text werden Begriffe wie „Taubstummenanstalten“ in Anführungszeichen gesetzt, um zu verdeutlichen, dass es sich um in den Quellen benutzte Bezeichnungen und Namen handelt; vgl.: Lademacher, Horst: Von den Provinzialständen zum Landschaftsverband, Köln 1973, S. 72.

[2] Vgl.: Müller, Max: „Fürsorge für Taubstumme“, in: Dr. Horion, Johannes (Hrsg.): Die Rheinische Provinzialverwaltung. Ihre Entwicklung und ihr heutiger Stand, Düsseldorf 1925, S. 213-228; vgl.: Landschaftsverband Rheinland (Klausa, Udo): Der Landschaftsverband Rheinland. Ein Handbuch mit dem Bericht der Verwaltung über den Zeitraum von der Gründung bis zum 31. März 1958, Köln 1958, S.171-174.

[3] ALVR, 19052, Bl.6.

[4] Vgl.: ebd.; Müller S. 224; Artikel „Taubstummenanstalten“, in: Meyers, Band 6, Spalte 346. Für die Bewertung von Laut- und Gebärdensprachunterricht nach 1945; vgl. auch Hoffstadt, Anke: Gehörlosigkeit als „Behinderung“. Menschen in den Gehörlosenschulen des Landschaftsverbandes Rheinland nach 1945, Berlin 2018, S. 92-126.

[5] ALVR, 7592, Titel.

[6] Vgl.: ALVR, 7592; ALVR, 7488.

[7] ALVR, 7592, Bl.1v, 2-3.

[8] ALVR, 7488, Bl.115.

[9] Vgl.: ebd., Bl.116.

[10] Vgl.: ALVR, 19012, Bl.86-88.

[11] Vgl.: ALVR, 18667, Bl.5-16.

[12] Vgl.: ebd., Bl.42.

[13] Vgl.: ALVR, 29161, Bl.211, 213, 223, 228-232.

[14] Vgl.: ALVR, 19012.

[15] ALVR, 19012, Bl.41.

[16] ALVR, 19052, Bl.1.

[17] Ebd., Bl.7.


Benutzte Quellen

ALVR, 462 - Gehörlosenschule Essen, Nr. 19012, 19052 und 29161.

ALVR, 464 - Gehörlosenschule Köln, Nr. 18667.

ALVR, 5PV - Taubstummen- und Blindenwesen, Nr. 7488 und 7592.

Benutzte und weiterführende Literatur

Hoffstadt, Anke: Gehörlosigkeit als „Behinderung“. Menschen in den Gehörlosenschulen des Landschaftsverbandes Rheinland nach 1945, Berlin 2018.

Dr. Horion, Johannes (Hrsg.): Die Rheinische Provinzialverwaltung. Ihre Entwicklung und ihr heutiger Stand, Düsseldorf 1925.

Lademacher, Horst: Von den Provinzialständen zum Landschaftsverband, Köln 1973.

Landschaftsverband Rheinland (Hrsg.): Der Landschaftsverband Rheinland. Ein Handbuch mit dem Bericht der Verwaltung über den Zeitraum von der Gründung bis zum 31. März 1958, Köln 1958.

Meyers Großes Konversationslexikon. Ein Nachschlagewerk des allgemeinen Wissens. Sechste, gänzlich neubearbeitete und vermehrte Auflage, Leipzig und Wien 1905-1909.

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