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im Rheinland

Vor 50 Jahren

Ehrung für den Psychiater und Neurologen Otto Löwenstein in seiner ehemaligen Wirkungsstätte

In einer Feierstunde am 17. November 1964 wurde in der Kinder- und Jugendpsychiatrie-Abteilung der Rheinischen Landesklinik Bonn (heute LVR-Klinik Bonn) eine Büste von Prof. Dr. Otto Löwenstein enthüllt, um ihn als Begründer der Vorgängereinrichtung, der "Provinzial-Kinderanstalt für seelisch Abnorme", zu ehren. Die Rede zu Ehren des 75-jährigen hielt der Direktor des Landschaftsverbandes Rheinland Udo Klausa, dessen Verstrickung in das NS-Regime erst jüngst in einer Studie der britischen Historikerin Mary Fulbrook herausgearbeitet wurde.[1] Unter anderem führte Klausa in seiner Laudatio aus, der LVR habe den dringenden Wunsch gehabt, "einer Persönlichkeit seine Reverenz zu erweisen, die sich um die Jugendpsychiatrie zunächst und die Wissenschaft darüber hinaus in einer Weise verdient gemacht hat, daß Worte wie Dankbarkeit, Rehabilitation, Ehrung in seinen Ohren und auch in den unseren schal und inhaltsleer erklingen müssen. So kann es von uns aus nur der bescheidene Versuch sein, eine Brücke zu schlagen, die lange Jahre hindurch abgebrochen schien, eine Tradition wieder anzuknüpfen, die unterbrochen war. Unterbrochen nicht im Wissenschaftlichen sondern im Menschlichen. Denn was Prof. Dr. Otto Lowenstein (!) für die Jugendpsychiatrie getan hat, ist längst Bestandteil dieser Spezialdisziplin der Psychiatrie, der weder unterstrichen zu werden braucht, noch gelöscht werden kann."[2]


Otto Löwenstein wurde am 7. Mai 1889 als Sohn des Kaufmanns Julius Löwenstein und seiner Frau Henriette Löwenstein, geb. Grunewald, in Osnabrück geboren. Er war jüdisch, konvertierte aber mit zwanzig Jahren zum Protestantismus und heiratete Martha Grunewald.[3] Gleich im Anschluss an das Medizinstudium führte ihn sein Weg im März 1913 in die Provinzial-Heil- und Pflegeanstalt Bonn, wo er in den nächsten zwei Jahrzehnten wirken konnte, bevor er im März 1933 wegen seiner jüdischen Herkunft vertrieben wurde. 1914 erhielt er die Approbation als Arzt und wurde zum Dr. med. promoviert. Seine Erfahrungen als 1. Garnison-Arzt in einer Militärnervenstation im Ersten Weltkrieg konnte er anschließend als Anstaltsarzt in der Provinzial-Heil-und Pflegeanstalt Bonn einbringen, wo er nach der Habilitation 1920 zum Oberarzt aufstieg. 1923 wurde er außerordentlicher Professor für Psychiatrie an der Universität Bonn. Als Forschungsprojekt der nächsten Jahre begann er, die Krankenakten geschlossener rheinischer "Irrenanstalten" zu sammeln und auszuwerten, um mittels dieses psychiatrisch-erbbiologischen Archives Krankheitsbilder und Familienstammbäume in Beziehung zu setzen.[3] Nach Löwensteins Vertreibung wurde seine Sammlung zum Grundstock eines Institutes für psychiatrisch-neurologische Erbforschung gemacht, das der Untermauerung der nationalsozialistischen Rassenhygiene und einer repressiven Gesundheitspolitik diente.[5]

1926 wurde die "Provinzial-Kinderanstalt für seelisch Abnorme" in Bonn unter Löwensteins Initiative und Leitung gegründet. Bislang gab es weder in Deutschland noch in anderen Ländern ein Vorbild für eine eigenständige Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie. Der Neurologe und wissenschaftliche Lehrer Löwensteins, Prof. Dr. Alexander Westphal, pries gegenüber dem Landeshauptmann Dr. Johannes Horion die Bedeutung der geplanten Einrichtung und Löwensteins wissenschaftliche, auf experimentellen Forschungen beruhende Reputation: "…so muss man doch berücksichtigen, dass ... für die erfolgreiche Durchführung der zu übernehmenden Aufgaben ein ungewöhnlich hohes Mass von wissenschaftlichem Können und persönlicher Aufopferung erforderlich ist … Die wissenschaftliche Neuartigkeit der zu übernehmenden Aufgaben wie auch ihre Verquickung mit sozialen Gesichtspunkten erfordern den vollen Einsatz einer geeigneten Persönlichkeit …".[6]


Für die objektive Beurteilung psychologischer Tatbestände hatte Löwenstein seit Beginn der 1920er Jahre Geräte entwickelt, die Reaktionen der Sinne, Muskeln und Sehnen als „unbewusste Ausdrucksbewegungen“ aufzeichnen konnten. Um die im Institut zutage tretenden psychopathologischen und experimentalpsychologischen Fragestellungen wissenschaftlich einbinden zu können, ging Löwenstein wiederum neue Wege: 1931 wurde ein spezieller Pathopsychologischer Lehrstuhl an der Universität Bonn geschaffen, dessen erste ordentliche Professur Löwenstein übernahm. Dass er die Psychopathologie, die sich auf die Symptome psychischer Krankheiten konzentriert, vom Lehrstuhl für Psychiatrie abkoppelte, geschah gegen den Willen und in „scharfer Abneigung“ des größten Teils der Medizinischen Fakultät.[7] Dagegen wurde die Einrichtung der Professur und der Betrieb des Instituts von der Provinzialverwaltung, namentlich von Landeshauptmann Horion, unterstützt und finanziell durch das Gehalt an der PHP ermöglicht.[8]

Am 8. März 1933 wurden die von Löwenstein geleiteten Institute von ca. 100 SS-Leuten überfallen, die Einrichtungen und Geräte zerstört und die Angestellten misshandelt. Den nicht anwesenden Löwenstein erklärte man für abgesetzt. Da ein Haftbefehl gegen ihn erlassen worden war, floh er mit seiner Frau Martha Grunewald und den beiden Töchtern erst ins Saargebiet und zwei Tage später in die Schweiz.[9] Aus seinen Briefen desselben Jahres, aber auch den Schreiben nach 1945 wird deutlich, dass Löwenstein sich nicht als Opfer der Judenverfolgung sah, sondern die persönliche Feindschaft von Prof. Dr. Walther Poppelreuter für seinen Sturz verantwortlich machte. Seit Jahren hatte dieser gegen Löwenstein an der Universität und der PHP gekämpft, u.a. weil er Löwenstein seine Versetzung und den Umzug seines "PHP-Instituts für hirnverletzte Kriegs- und Arbeitsopfer" von Bonn nach Düsseldorf anlastete, da Löwensteins Kinderanstalt 1926 in das zwischenzeitlich leer stehende Gebäude eingezogen war. Poppelreuter übernahm als kommissarischer Leiter sowohl die Provinzial-Kinderanstalt als auch das Pathopsychologische Institut.[10]


Löwenstein gelang in der Schweiz ein Neuanfang und wiederum die Gründung einer psychiatrischen Kinderklinik, aber mit dem Beginn des Zweiten Weltkriegs kam ihm ein Ruf nach New York gerade recht, wo er bis 1952 als Universitätsprofessor für Neurologie arbeitete. Im Anschluss an seine deutschen Forschungsarbeiten über Pupillographie gründete er 1949 das „Laboratory of Pupillography“ und erhielt bis 1962 Forschungsaufträge in der Augenheilkunde. Schon seit Ende der 1940er Jahre besuchte Löwenstein Deutschland und seine früheren Wirkungsstätten, um Gastvorträge zu halten. Doch nicht nur, dass Löwenstein selbst nicht mehr in der Kinderpsychiatrie wirkte, auch die Rezeption seiner Leistungen auf diesem Gebiet war dürftig; in den meisten wissenschaftlichen Darstellungen blieb die früheste deutsche Institution der Kinder- und Jugendpsychiatrie unberücksichtigt. So hatte die Vertreibung Löwensteins tatsächlich einen vollständigen Bruch mit seinem Werk bewirkt.[11]

Mit der Enthüllung seiner Büste wurde im November 1964 versucht, diese Leistungen in Erinnerung zu bringen. Die Büste hatte der Bildhauer Otto Schließler (1885-1964) geschaffen – aus heutiger Sicht eine ungeschickte Wahl, hatte Schließler doch bei der Machtergreifung der Nationalsozialisten von der Entlassung einer Vielzahl von Künstlern an der Akademie der Künste in Karlsruhe profitiert, war seit 1933 hier Lehrer, seit 1942 Professor und führte als vom Wehrdienst befreiter „Künstler im Kriegseinsatz“ Staatsaufträge für Porträts aus, so 1942 ausgerechnet vom Mediziner und Rassenhygieniker Prof. Dr. Eugen Roos.[12]

Nach der Enthüllung der Büste erhielt Löwenstein wegen seiner fächerübergreifenden Forschungen überdies die Ehrendoktorwürde der Philosophischen Fakultät der Universität Bonn und das goldene Doktordiplom. Im März 1965, vier Monate nach diesem letzten Besuch in Bonn, starb Otto Löwenstein in New York.


Anmerkungen:

[1] Zur Rolle Klausas während des Dritten Reiches siehe: Mary Fulbrook, A small Town near Auschwitz. Ordinary Nazis and the Holocaust, Oxford 2012 (dt. Übersetzung in Vorbereitung).

[2] ALVR, Nachlass Klausa, Nr. 66b vom 17. November 1964, S. 1.

[3] Zum familiären Hintergrund siehe: Leo Peters, Eine jüdische Kindheit am Niederrhein. Die Erinnerungen des Julius Grunewald (1860 bis 1929), Köln/Weimar/Wien 2009. Eine ausführliche Biografie ist online abrufbar unter: http://www.rheinische-geschichte.lvr.de/persoenlichkeiten/L/Seiten/OttoLoewenstein.aspx.

[4]Annette Waibel, Die Anfänge der Kinder- und Jugendpsychiatrie in Bonn. Otto Löwenstein und die Provinzial-Kinderanstalt 1926-1933 (Rheinprovinz 13), Köln 2000, S. 43; ALVR, Nr. 18205, vom 20. Dezember [1919].

[5] Wolfgang Schaffer, Erbbiologische Bestandsaufnahme im Rheinland – Das Institut für Psychiatrisch-Neurologische Erbforschung in Bonn, in: Zum Ideologieproblem in der Geschichte (Subsidia Academica Reihe A Bd. 8), hg. v. Erik Gieseking u.a., Erlangen 2006, S. 419-443, hier S. 420f. Bis 1941 stieg die Zahl der auf Sippschaftstafeln verzeichneten Personen auf 1 ¼ Millionen, vgl. Marco Kaul, Günther Elsässer: Von der Erbforschung zur Psychotherapie (Dissertation 2013 online veröffentlicht: http://geb.uni-giessen.de/geb/volltexte/2013/9580/pdf/KaulMarco_2013_02_06.pdf, Abruf 26.11.2014), S. 45.

[5] ALVR, Nr. 18205, Bl. 22 vom 3. März 1926.

[7] Waibel, Anfänge, S. 45; Ralf Forsbach, Die Medizinische Fakultät der Universität Bonn im „Dritten Reich“, München 2006, S. 347ff.

[8] ALVR, Nr. 18205, Bl. 43 f., Bl. 61.

[9] Waibel, Anfänge, S. 48f.

[10] Waibel, Anfänge, S. 45 Anm. 158, S. 49f.

[11] Annette Waibel, Die Provinzialkinderanstalt für seelisch Abnorme in Bonn, in: Folgen der Ausgrenzung. Studien zur Geschichte der NS-Psychiatrie in der Rheinprovinz (Rheinprovinz 10), Redaktion Wolfgang Schaffer, Köln 1995, S. 67-88, hier S. 71.

[12] Die Malerei ist tot - es lebe die Malerei. 150 Jahre Kunstakademie Karlsruhe - Die Professoren von 1947 bis 1987. Katalog zur Ausstellung 15.05.2004 - 15.08.2004, hg. v. Erika Rödiger-Diruf, Karlsruhe 2004, S. 84.

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Weiterführende Quellen und Literatur

  • ALVR, Bestand Personalakten, Nr. 18205-18207 (Personalakte von Otto Löwenstein) und Nr. 19877 ff. (Wiedergutmachungsverfahren)
  • ALVR, Bestand Nachlass Klausa, Nr. 66b
  • Ralf Forsbach, Die Medizinische Fakultät der Universität Bonn im „Dritten Reich“, München 2006.
  • Mary Fulbrook, A small Town near Auschwitz. Ordinary Nazis and the Holocaust, Oxford 2012.
  • Linda Orth, Die Transportkinder aus Bonn. „Kindereuthanasie“ (Rheinprovinz 3), Köln 1989.
  • Leo Peters, Eine jüdische Kindheit am Niederrhein. Die Erinnerungen des Julius Grunewald (1860 bis 1929), Köln/Weimar/Wien 2009.
  • Wolfgang Schaffer, Erbbiologische Bestandsaufnahme im Rheinland – Das Institut für Psychiatrisch-Neurologische Erbforschung in Bonn, in: Zum Ideologieproblem in der Geschichte (Subsidia Academica Reihe A Bd. 8), hg. v. Erik Gieseking u.a., Erlangen 2006, S. 419-443.
  • Annette Waibel, Die Provinzialkinderanstalt für seelisch Abnorme in Bonn, in: Folgen der Ausgrenzung. Studien zur Geschichte der NS-Psychiatrie in der Rheinprovinz (Rheinprovinz 10), Redaktion Wolfgang Schaffer, Köln 1995, S. 67-88.
  • Annette Waibel, Die Anfänge der Kinder- und Jugendpsychiatrie in Bonn. Otto Löwenstein und die Provinzial-Kinderanstalt 1926-1933 (Rheinprovinz 13), Köln 2000.
  • http://www.rheinische-geschichte.lvr.de/persoenlichkeiten/L/Seiten/OttoLoewenstein.aspx

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