Bis in das späte 18. Jahrhundert hinein ist der geistes- oder psychisch kranke Mensch kaum als therapierbarer Kranker angesehen worden. Geisteskrankheit wurde oft sogar als Folge von Sünde angesehen, den äußeren Erscheinungsformen, zumal wenn sie mit Unruhe oder Unreinlichkeit einhergingen, stand man zumeist hilflos gegenüber. Noch im Jahre 1817 umschrieb der Oberpräsident der Provinz Jülich-Kleve-Berg Graf Solms-Laubach deren damalige Situation wie folgt: „Waren diese Unglücklichen vermögend, so überließ man sie der Willkür unbarmherziger Verwandter, waren sie arm und der öffentlichen Sicherheit gefährlich, so warf man sie mit gemeinen Verbrechern zusammen in Gefängnisse oder sperrte sie mit Fallsüchtigen und anderen unheilbar körperlich Kranken in dieselben Behältnisse. An Heilungsversuche wurde gar nicht gedacht.“[1]
Es war dem fortschreitenden 18. Jahrhundert und der Aufklärung überlassen, auch den kranken Menschen in den Blick zu nehmen. Tatsächlich ist eine berühmte Szene, die „Befreiung der Irren von ihren Ketten“ auf Reformbemühungen des reformerisch-revolutionären französischen Staates zurückzuführen, konkret auf die von einem humanitären Ideal getragenen Maßnahme des Arztes Philipp Pinel, der in der großen Pariser Anstalt Salpêtrière diese „Befreiungsaktion“ durchführte. Dies bedeutete nichts anderes, als dass der psychisch Kranke, in der zeitgenössischen Terminologie als "Irrer" bezeichnet, nicht länger als Sozialübel angesehen, sondern in den Krankenstand erhoben wurde.[2] Nunmehr „wurde der Irre im Heer der gesellschaftlich Abgeschriebenen neu entdeckt, und man drang bei ihm auf menschenwürdige Behandlung.“[3]
Nach dem Übergang der Rheinlande an Preußen im Jahre 1815 suchte auch der preußische Staat durch eine Reihe von Reformen eine „Modernisierung“ auf den Weg zu bringen, zu welcher u. a. die so genannte Irrenreform gehörte. Ein neuartiger Umgangsstil mit dem psychisch Kranken sollte auch institutionell verankert werden. Der Optimismus der Aufklärung, den Menschen aus seiner Unmündigkeit herausführen zu können, wurde auf den Irren und seine Behandlung übertragen.[4] Die preußische Bürokratie lief hier mit ihren Initiativen der gesellschaftlichen Entwicklung voran, und auch der neue Umgang mit dem Thema spiegelt diese Vorreiterfunktion. „Verbürgerlichung“ als Programm bedeutete auch das Ausmerzen gesellschaftlicher Krankheitsherde. Der psychisch Kranke unterschied sich in den Augen der Bürokratie vom Armen dadurch, dass dieser sein Schicksal selbst zu verantworten hatte, während für jenen Verantwortung übernommen werden konnte.[5]
Treibende Kraft war hier der Arzt und Leiter des preußischen Medizinalwesens Johann Gottfried Langermann (1768–1832). Für das Gebiet der späteren Rheinprovinz war zunächst u.a. geplant, dass die damals noch drei rheinisch-westfälischen Provinzen Westfalen, Jülich-Kleve-Berg und Niederrhein eine große Heilanstalt und jede Provinz wiederum eine Aufbewahrungsanstalt für unheilbar Geisteskranke erhalten sollten. Nach längeren Verhandlungen fiel im Jahre 1823 die Wahl auf die 1803 im Zuge der Säkularisation aufgehobene ehemalige Benediktinerabtei Siegburg. Vorübergehend waren auch die Standorte Schloss Brühl bzw. Schloss Bensberg und die ehemalige Abtei Vilich diskutiert worden; Siegburg erhielt nicht zuletzt den Zuschlag wegen seiner Nähe zur 1818 neu gegründeten Universität Bonn, war doch von vornherein eine enge Ankoppelung der Heilanstalt an den medizinischen Lehrbetrieb geplant.[6]
Auf Grund der in der Rheinprovinz eingeführten provinzialständischen Verfassung gab es hier einen erstmals im Jahre 1826 zusammentretenden Provinziallandtag, dem auch bestimmte Selbstverwaltungsaufgaben übertragen waren. Zu ihnen gehörten die Irren-, Armen- und Pflegeanstalten. Die Versammlungen der rheinischen Stände bildeten somit das Forum, auf dem sich der lange Definitionsprozess der führenden gesellschaftlichen Kräfte gegenüber dem Irren abspielte.[7]
Konflikte waren denn auch vorprogrammiert. Siegburg war ein Institut, das die preußische Bürokratie konzipiert hatte, das aber zu den Kommunalangelegenheiten der Rheinprovinz gehörte, die die Stände finanzieren mussten.[8] Der zuständige Ausschuss des ersten Rheinischen Provinziallandtags sah sich denn auch im Angesicht einer Kostenüberschreitung von über 40000 Talern zu der Bemerkung veranlasst: „Man weiß in der Tat nicht, ob man mehr über die Leichtfertigkeit der Taxierung oder über die Kostspieligkeit der Sache selbst sein Erstaunen aussprechen soll“, und weiter: „Bei der Errichtung des Irrenhauses scheint man wunderbar genug überall irrend gewesen zu sein.“ Auch die Wahl des Ortes auf einem hohen Berg und nur mit Beschwerlichkeit zugänglich wurde kritisiert.[9] Im Jahre 1827 wurde eine spezielle Verwaltungskommission aus vier Mitgliedern ins Leben gerufen, von denen zwei durch den Provinziallandtag gewählt, die beiden anderen durch den Oberpräsidenten ernannt werden sollten. Der Oberpräsident übte die Aufsicht aus, die Regierung stellte die Etats auf und kontrollierte die Rechnung. Dem Provinziallandtag wurden Übersichten der Verwaltungsresultate vorgelegt.[10]
An dieser Stelle kommt die Person von Maximilian Jacobi ins Spiel (1775–1858). Jacobi, gebürtiger Düsseldorfer und Sohn des Philosophen Friedrich Heinrich Jacobi, hatte bereits ein bewegtes und aus eigener Sicht unbefriedigendes Leben hinter sich, als er sich in die Diskussion um die Reform einzubringen begann. Er war Arzt und seit 1816 als Regierungs- und Medizinalrat in Düsseldorf tätig. Offensichtlich sah er in der sogenannten "Geisteskrankenfürsorge" eine Perspektive zu einer beruflichen Karriere, die ihm und seiner Familie zumal ein ausreichendes Einkommen verschaffen würde. Im Jahre 1820 unternahm er ohne behördliche Anweisung eine Studienreise durch eine Anzahl deutscher Einrichtungen für psychisch Kranke und kam am Schluss auch nach Berlin, wo er Ende Oktober von Staatsminister von Altenstein sogar zu Beratungen über die Anlegung von "Irrenanstalten" zugezogen wurde und diesen bereits um Übertragung der Leitung einer neu zu errichtenden rheinischen Einrichtung bat.[11]
In den nächsten Jahren bis zu einer definitiven Entscheidung verfolgte Jacobi sein Ziel konsequent, suchte sich u.a. durch die Übersetzung und Einleitung englischsprachiger Publikationen über Geisteskrankheiten zu profilieren. An Kritik hinsichtlich seiner evtl. Berufung mangelte es nicht: Ihm wurde vorgeworfen, nicht über die notwendigen Charaktereigenschaften zu verfügen, „finsteres Gemüt“ und „Verschlossenheit“ wurden ihm u.a. attestiert. Letztendlich blieb ihm jedoch die Protektion Altensteins und auch die Zustimmung Langermanns erhalten, so dass er schließlich im Jahre 1822 mit der Überwachung der Umbaumaßnahmen in Siegburg betraut wurde.[12] Er zog mit seiner Familie nach Bonn, wo er in engen Kontakt mit der Universität kam. Ein freundschaftlicher Kontakt entwickelte sich insbesondere zu dem Professor für Innere Medizin Christian Friedrich Nasse (1778–1851), auch Mitherausgeber der Zeitschrift für psychische Ärzte – Grundlage einer von Anfang an intensiven Zusammenarbeit zwischen Heilanstalt und Medizinischer Fakultät. Immer wieder kam es in den nächsten Jahrzehnten zu Praktika angehender Ärzte in Siegburg. Jacobi blieb bis zu seinem Tode im Jahre 1858 Direktor der Heilanstalt, die sich geradezu zu einem „Mekka der deutschen Irrenärzte“ entwickeln sollte.[13]
Es gehörte zu den für Siegburg und die Entwicklung der, wie man sie damals noch nannte, „psychischen Heilkunde“, wegweisenden Merkmalen, dass auf die körperliche Untersuchung der Siegburger Kranken allergrößte Sorgfalt gelegt wurde. Jacobi selbst gehörte zu den so genannten Somatikern, für die auch psychische Erkrankungen körperlich bedingt waren. „Religiöse Schuld“ und pädagogisch motivierter Zwang spielten hier keine Rolle mehr, vielmehr war eine Annäherung an Geisteskrankheit über die Beobachtung von Geisteskranken angesagt. Jacobi selbst entwickelte einen aus 83 Fragen bestehenden Fragebogen, in welchem sämtliche Details zu der konkreten Erkrankung, aber auch zum jeweiligen Lebensverlauf und familiären Hintergrund abgefragt wurde. Es folgten tägliche Beobachtungen, die sorgfältig in Krankengeschichten festgehalten wurden. Außer dem neuen gedanklichen Therapieansatz begründeten diese beiden Behandlungsschritte – die umfassende Anamnese und die Dokumentation des Krankheitsverlaufes – für die Siegburger Einrichtung den in Fachkreisen über Jahrzehnte unbestrittenen Ruf als Musteranstalt.[14] Auch eine Beschäftigung arbeitsfähiger Kranker hatte in diesem Therapieansatz ihren festen Platz, sei es im Haushalt, in den Werkstätten, dem Garten oder der Landwirtschaft.[15]]
Kritik erfuhr nicht zuletzt auch die von Friedrich Nasse und Jacobi dezidiert vertretene Anschauung, dass wegen der notwendigen Heilversuche an Geisteskranken Siegburg eine reine Heilanstalt ausschließlich für Kranke, „die nach dem Anspruch der ärztlichen Erfahrung eine näher begründete Hoffnung auf Wiederherstellung gewährten“, sein sollte. Geisteskranke aus anderen Provinzen sollten nur soweit Platz vorhanden war, aufgenommen werden können. An dieser Position wurde trotz deutlichen Widerstandes aus dem Provinziallandtag zäh festgehalten.[16]
Einen Einblick in diese für damalige Verhältnisse neue und sehr fortschrittliche Behandlungsweise vermitteln die ca. 5000 Patientenakten, die von dem Zeitraum von der Gründung bis zur Schließung der Anstalt im Jahr 1878 im Archiv des LVR überliefert sind. Hinzu kommen Krankenregister, die in mehreren Bänden Informationen über die Patienten in konzentrierter Form liefern. Sie werden durch eine breite Sachakten-Überlieferung ergänzt.
Unter der Ägide Maximilian Jacobis spielte die Heilanstalt Siegburg eine maßgebliche Rolle unter den führenden deutschen Einrichtungen dieser Art. Ihre Auflösung im Jahre 1878 ist zurückzuführen auf zunehmende räumliche Probleme, mangelnde Entfaltungsmöglichkeiten, aber vor allem auch die grundsätzliche Neuorientierung der Irrenreformpolitik, die die Provinziallandtage veranlasste, mit dem Bau von fünf neuen – und seit den 1870er Jahren fertig gestellten – so genannten Provinzial-Heil- und Pflegeanstalten ein adäquates Angebot hinsichtlich der Versorgung psychisch Kranker darzubieten.
Fußnoten:
[1] Vgl. Herting 1924, S. 1f.
[2] Vgl. Leibbrand-Wettley 1967, S. 57; Blasius 1986, S. 42.
[3] Blasius 1986, S. 41f.
[4] Vgl. Blasius 1980, S. 22; Blasius 1991, S. 258; Herzog 1988, S. 438; Braun 2009, S. 133.
[5] Vgl. Blasius 1980, S. 29f.; Blasius 1986, S. 44.
[6] Vgl. Croon 1918, S. 288; Braun 2009, S. 133f.; Geyer 2014, S. 130f.
[7] Vgl. Blasius 1986, S. 43.
[8] ALVR 1156, 1157; vgl. Blasius 1980, S. 27f.; Blasius 1986, S. 44.
[9] ALVR 1154; vgl. Herting 1924, S. 13.
[10] ALVR 1154; Croon 1918, S. 289; Herting 1924, S. 11f., 28; Braun 2009, S. 137.
[11] Vgl. Herting 1924, S. 4; Braun 2009, S. 134f.; Geyer 2014, S. 132.
[12] Vgl. Croon 1918, S. 293; Herting 1924, S. 5.
[13] Vgl. Schaffer 2000, S. 45–47; Braun 2009, S. 135.
[14] Blasius 1986, S. 49f.; Blasius 1991, S. 259; Herting 1924, S. 21; Herzog 1988, S. 441; Geyer 2014, S. 131f.; Korte-Böger, 2008, S. 45.
[15] Herting 1924, S. 23.
[16] Herting 1924, S. 20.