Am 5. Dezember 1865, also vor 150 Jahren, schlug der für Angelegenheiten der Geisteskrankenfürsorge zuständige III. Ausschuss der Vollversammlung des 18. Rheinischen Provinziallandtages einen Beschluss vor, den dieser in seiner Sitzung vom 7. Dezember annahm. Die Folgen waren für die gesamte Rheinische Psychiatrie von wegweisender Bedeutung.[1] Sie wirken sich bis in die Gegenwart hinein aus, denn noch die heutigen LVR-Kliniken stehen letztlich in dieser Tradition. Konkret beschloss der Provinziallandtag damals den Bau von fünf neuen Provinzial-Heil- und Pflegeanstalten in der Rheinprovinz und bewilligte die hierfür benötigten zwei Millionen Taler. Dieser Beschluss fügt sich ein in ein in Grundthema, wie es der Historiker Dirk Blasius auf den Punkt brachte: „Die Irrenfrage des 19. Jahrhunderts ist ein genauer Anzeiger für die Formveränderung der Gesellschaft in diesem Jahrhundert“.[2]
Was war der Grund für einen solchen Vorstoß? 1825 ging mit der Gründung der ersten öffentlichen Heil-Anstalt auf dem Michaelsberg in Siegburg die Fürsorge für psychisch Kranke in die Zuständigkeit der provinzialständischen Verwaltung über – auch wenn diese zunächst mit dem preußischen Staat geteilt wurde. Allerdings beschränkte sich diese Fürsorge auf psychisch erkrankte Personen beiderlei Geschlechts, die prinzipiell für heilbar erachtet wurden.[3] Jene Kranken, die man nach einem in der Regel bis zu zweijährigen so genannten Kurversuch oder aber auch von vornherein für „unheilbar“ hielt, wurden in so genannte Verwahr- oder Pflegeanstalten verbracht. So gab es gegen 1860 in der Rheinprovinz eine Reihe von kleineren Privatanstalten für die wohlhabendere Klientel, darüber hinaus 15 Pflegeanstalten, die zur Unterbringung von psychisch Kranken von Kommunen und Privatpersonen genutzt wurden. Damals befanden sich ungefähr 1400 Kranke in Anstaltspflege, hinzuzurechnen waren darüber hinaus über 1000 anstaltspflegebedürftige Personen, die noch in den Familien lebten.[6] Allein diese Zahl Anstaltsbedürftiger übte planerischen Druck auf die Behörden aus, sich dieser Kranken auch tatsächlich anzunehmen. Die gesamtgesellschaftliche Entwicklung produzierte im Kontext der mit der Industrialisierung einhergehenden sozialen Verwerfungen zudem eine immer höhere Zahl psychisch Kranker, so dass der Bedarf immer stärker anstieg. Dieser Wandlungsprozess veränderte aber auch das Sozialprofil der rheinischen Provinzialstände, insofern nunmehr das bürgerliche Element richtungsbestimmend wurde und die Verantwortung für den „Irren“, wie er damals bezeichnet wurde, stringenter wahrgenommen wurde.[5] In den Jahren nach 1850 stärkte die ökonomische Entwicklung das Bürgertum, das dadurch zu einer politischen Kraft wurde. Besonders die 1860er Jahre waren eine Zeit geschichtlicher Aktualisierung des Emanzipationsgehalts von bürgerlicher Gesellschaft.[6]
Schon im Jahre 1848 hatte der an der Heilanstalt Siegburg tätige Arzt Dr. Franz Richarz (1812–1887) vorgeschlagen, in jedem der zur Rheinprovinz gehörenden Regierungsbezirke Aachen, Düsseldorf, Koblenz, Köln und Trier eine Aufnahmeanstalt für heilbare psychisch Kranke zu bauen.[7] Die Siegburger Einrichtung hatte eine Aufnahmekapazität von nur 200 Personen und, da auf einem Berg gelegen, keinerlei Erweiterungsmöglichkeit. Zwar wurde Ende der 1850er Jahre auch der Grundsatz der Heilbarkeit als ausschließliches Aufnahmekriterium aufgegeben, doch war auch dies letztendlich nur ein weiteres Anzeichen für die sich immer stärker abzeichnenden Engpässe in der Versorgung psychisch Kranker.[8]
Im Jahre 1864 setzte der 17. Rheinische Provinziallandtag eine „Spezialkommission“ ein, die Vorschläge hinsichtlich einer Verbesserung der „Irrenpflege“ unterbreiten sollte. Deren Bericht dokumentiert die grundlegende Veränderung im gesellschaftlichen Umgang mit psychisch Kranken: Sie erschienen nun nicht mehr nur als „lästiges Widerlager gesellschaftlicher Sekurität“, sondern als Kranke, an deren Behandlung „sich die Legitimität geltender gesellschaftlicher Normen“ zu erweisen hatte.[9] Dieser Bericht stellte nicht zuletzt auch die desaströsen Zustände in der Anstalt Siegburg heraus. Überhaupt verlagerte sich der Aufmerksamkeitsschwerpunkt vom heilbaren auf den unheilbaren psychisch Kranken – das „Irrenproblem“ wurde in der Spannungslage des sich verändernden Gewichts der bürgerlichen Klasse und der sich verschärfenden sozialen Lage unterbürgerlicher Schichten immer mehr als ein soziales Problem gesehen.[10] Das signifikant Neue – geradezu eine „Neuaneignung des Irrenproblems“ – war die Einbringung des Heilgedankens in das alte System der Aufbewahrung.[11] Die Zeit der Gleichgültigkeit gegenüber dem „armen Irren“ war vorbei, damit aber auch die bisherige Trennung und unterschiedliche Behandlung von heilbaren und unheilbaren psychisch Kranken.[12] Die Heilparole war geradezu ein Stück „bürgerlicher Optimismus“, Ausdruck eines Lebensgefühls, das von der Überzeugung gesellschaftlichen, ökonomischen und auch wissenschaftlichen Fortschritts getragen wurde. Die „Verbürgerlichung“ als Programm bedeutete auch das Eingrenzen gesellschaftlicher Krankheitsherde, ein Ausloten der Situation psychisch Kranker im Hinblick auf die Möglichkeiten der sozialen Reintegration.[13]
So war es im Jahre 1865 der dritte Direktor der Heilanstalt Siegburg, Dr. Werner Nasse (1822–1889, amt. 1865–1878), der in einer Denkschrift den Bau neuer gemischter Anstalten, so genannter Heil- und Pflegeanstalten, in jedem Regierungsbezirk vorschlug. Die Siegburger Einrichtung sollte aufgegeben werden, jede der neuen Kliniken in einer Größenordnung von 300 bis 400 Betten sowohl „heilbare“ als auch „unheilbare“ Kranke aufnehmen.[14] Auch eine Petition der in der Rheinprovinz bestehenden Regierungsbezirksvereine der Ärzte vom 4. Dezember 1865 bat um Errichtung von mindestens einer „Irrenheilpflegeanstalt“ in jedem Regierungsbezirk.[15] Diese Denkschrift löste den eingangs erwähnten Beschluss des Rheinischen Provinziallandtages aus, der als zentrales politisches Organ der Provinzialstände hiermit seine unmittelbare Verantwortung im Bereich der Versorgung psychisch Kranker wahrnahm.
Die Kommission schlug dem Provinziallandtag die Neuerrichtung von fünf Heil- und Pflegeanstalten, je eine in den Regierungsbezirken der Rheinprovinz, vor. Zwar löste die Diskussion dieser Vorschläge heftige Kontroversen aus,[16] doch war der Weg unumkehrbar. Blasius hat sogar davon gesprochen, dass in den 1860er Jahren in den Debatten der Provinziallandtage „ein Pathos durch[brach], das sich aus der langen Geschichte gesellschaftlichen Vergessens des ‚armen Irren‘“ speiste.[17]
Der 19. Rheinische Provinziallandtag beschloss dann im Jahre 1868 die Einrichtung von fünf „gemischten heil- und Pflegeanstalten“, welche entweder neu zu erbauen oder aber aus der Erweiterung bestehender Anstalten hervorgehen sollten. Der Landtagsabschied desselben Jahres, also die offizielle Approbierung durch die preußische Staatsführung, gewährte die Verwirklichung dieses Beschlusses: Es entstanden in Folge die ersten rheinischen Provinzial-Heil- und Pflegeanstalten Grafenberg, Düren, Andernach, Bonn und Merzig.[18]
[1] Vgl. Herting 1924, S. 56.
[2] Blasius 1998, S. 309.
[3] Vgl. Blasius 1980, S. 30; Ders. 1994, S. 30–31.
[4] Vgl. Wiehl 1925, S. 127f.
[5] Vgl. Blasius 1980, S. 38; Ders. 1998, S. 310.
[6] Vgl. Blasius 1979, S. 90.
[7] Franz Richarz: Ueber öffentliche Irrenpflege und die Nothwendigkeit ihrer Verbesserung mit besonderer Rücksicht auf die Rheinprovinz., Bonn 1844
[8] Vgl. Blasius 1998, S. 313.
[9] Vgl. Blasius 1980, S. 39.
[10] Vgl. Blasius 1980, S. 39; Ders. 1994, S. 43–44; Braun 2009, S. 78–81.
[11] Vgl. Blasius 1980, S. 39; Ders. 1994, S. 44.
[12] Vgl. Blasius 1980, S. 40.
[13] Vgl. Blasius 1982, S. 11; Ders. 1994, S. 39.
[14] Vgl. Herting 1924, S. 54–55.
[15] Vgl. Herting 1924, S. 56.
[16] Vgl. Blasius 1980, S. 44–45; Ders. 1994, S. 45.
[17] Vgl. Blasius 1980, S. 45; Ders. 1994, S. 51.
[18] Vgl. Herting 1924, S. 57; Wiehl 1925, S. 129–130; Blasius 1980, S. 45; 1994, 52; Ders. 1998, S. 313.