Der Erste Weltkrieg war durch die technischen und industriellen Errungenschaften des 19. und des beginnenden 20. Jahrhunderts geprägt. Durch die fortschrittlichen Waffensysteme wie Artillerie, Maschinengewehre und Giftgas, kombiniert mit den einsetzenden Grabenkämpfen nach der Schlacht an der Marne im September 1914, waren die Soldaten auf beiden Seiten einer völlig neuen Belastung ausgesetzt. Neben den schrecklichen Wunden, welche durch die neuen Waffen verursacht wurden, waren besonders die psychischen Erkrankungen ein Novum.
Die anfängliche Hypothese, dass der Krieg bis Weihnachten 1914 entschieden wäre, zerschlug sich mit der Stagnation der Fronten im Herbst 1914. Da mit längerer Kriegsdauer auch die Opferzahlen stiegen[1], wurde eine Versorgung der Kriegsbeschädigten zunehmend notwendig. Es sollte allerdings erst ein Jahr nach Kriegsbeginn zur Realisierung einer staatlichen Koordinierung der notwendigen Hilfen kommen. Zunächst führte der Landeshauptmann der Provinz Westfalen, Wilhelm Hammerschmidt, auf der außerordentlichen Landesdirektorenversammlung am 25. August 1915 in Brandenburg aus, dass durch eine geeignete Organisation und Hilfe für folgende drei Punkte zu sorgen sei:
„1. jeden Kriegsbeschädigten auf die möglichste Höhe körperlicher und geistiger Fähigkeiten zurückzubringen
2. das Gefühl in ihm zu wecken und lebendig zu halten, sein eigenes Bestes daran zu setzen, um wieder ein vollwertiges und aufrechtes Glied seines Volkes zu werden, und endlich
3. ihm in allen Richtungen zu der Erreichung dieses Zieles behülflich zu sein.“[2]
Das Tätigkeitsfeld des zu gründenden Ausschusses war somit grob umrissen. So sollte neben der medizinischen Behandlung vor allem ein geeigneter Beruf wiedergefunden werden.
Als am 16. September 1915 eine weitere Sitzung der Landesdirektoren nach Brandenburg einberufen wurde, war die Rheinprovinz nicht vertreten, sodass sie nicht zu den Gründungsmitgliedern des Reichsausschusses für Kriegsbeschädigtenfürsorge zählt. Dies wird ersichtlich in einem Schreiben des Landeshauptmannes der Rheinprovinz Ludwig von Renvers vom 3. November 1915 an den Landesdirektor der Provinz Brandenburg Joachim von Winterfeldt. Landeshauptmann von Renvers nimmt in seinem Schreiben lediglich Kenntnis von der Einrichtung des Ausschusses.[3] Ferner stellt er fest, dass der Reichsausschuss keine preußische Gesamtorganisation darstelle, da nicht alle an der Kriegsbeschädigtenfürsorge beteiligten Organisationen in ihm vertreten seien. Insbesondere die fehlende Beteiligung der Rheinprovinz wird durch von Renvers moniert. So wären „zwar die Fürstentümer Lippe-Detmold, Schaumburg-Lippe und Waldeck-Pyrmont durch je eine Stimme vertreten, die Rheinprovinz [...] wäre aber in dem Reichsausschuss nicht vertreten.“[4] Dennoch wolle sich die Rheinprovinz an einigen Kosten, vornehmlich an Verwaltungskosten, beteiligen. Eine generelle Kostenübernahme für gemeinschaftliche Einrichtungen wollte von Renvers hingegen nicht garantieren, da jeder Fall einzeln auf die Zweckmäßigkeit für die Rheinprovinz überprüft werden solle.
Die Worte des rheinischen Landeshauptmannes müssen bei von Winterfeldt hinterlassen haben. Als Antwort ging ein Schreiben des Leiters der Geschäftsstelle des Ausschusses, des ehemaligen Oberbürgermeisters von Regensburg Hermann Geib, bei der rheinischen Provinzialverwaltung ein.[5] Der Inhalt des Schreibens macht deutlich, dass Verhandlungen zwischen Vertretern des Rheinischen Provinzialverbandes, vornehmlich durch von Renvers und den späteren Landeshauptmann Johannes Horion, und der Geschäftsstelle des Reichsausschusses, vertreten durch Geib, stattgefunden haben müssen. Geib führt in seinem Schreiben aus, dass er Vertreter der Rheinprovinz in fünf Sonderausschüssen des Reichsausschusses für möglich hält. Im Sonderausschuss C – Kosten – sollte Landeshauptmann von Renvers den Vorsitz übernehmen.
Dass eine aktive Zusammenarbeit zwischen dem Rheinischen Provinzialverband und dem Reichsausschuss noch auf sich warten ließ, wird aus einem anschließenden Schreiben von Renvers an von Winterfeldt ersichtlich.[6] Zunächst versagt von Renvers die Teilnahme seiner Mitarbeiter an Unterausschüssen, da gegenwärtig zu wenig Personal für eine aktive Rolle zur Verfügung stünde, und „die Kriegsbeschädigtenfürsorge in der Rheinprovinz schon eine bestimmte feste Gestalt angenommen hat und nach bestimmten schon bis in Einzelheiten hinein ausgearbeiteten Grundsätzen arbeitet.“[7] Da die Möglichkeit bestünde, dass die Beschlüsse des Reichsausschusses somit den Grundsätzen des Rheinischen Provinzialverbandes entgegenstünden, wäre eine aktive Mitarbeit derzeit nicht möglich. Dass diese Gründe sekundärer Natur sind, wird erst im letzten Satz des Schreibens deutlich. Landeshauptmann von Renvers sieht in der fehlenden Einbeziehung der betreffenden Organisationen der Rheinprovinz seine Auffassung bestätigt, dass der Reichsausschuss über ausreichend Kräfte zur Aufgabenwahrnehmung verfügte. Diese Aussage verdeutlicht anschaulich, dass besonders die fehlende Einbeziehung der Rheinprovinz bei der Einrichtung des Reichsausschusses zu Unmut in der Führungsriege geführt hat.
Diese Annahme wird durch die im Januar des Jahres 1916 erfolgte Bestätigung der aktiven Mitarbeit des Rheinischen Provinzialverbandes im Reichsausschuss bekräftigt. Hier schreibt von Renvers, dass der Provinzialverband zu einer Mitarbeit bereit sei, da die Rheinprovinz nun im Reichsausschuss vertreten sei.[8]
Da die finanzielle Versorgung der Kriegsbeschädigten vollkommen unzureichend aufgestellt war, besonders hinsichtlich des Ziels der Wiedereinsetzung in die ehemaligen Berufe der Versehrten, mussten weitergehende Maßnahmen ergriffen werden. [9] Die Protokolle der einzelnen Sonderausschüsse und des Arbeitsausschusses geben Aufschluss über das zu erwartende Betätigungsfeld und die zur Umsetzung der Ziele benötigten Mittel. So befasste sich der Sonderausschuss für Berufsberatung und Ausbildung am 18. Dezember 1915 mit generellen Fragen der Kriegsversehrtenfürsorge.[10] Anschaulich werden hier die Ziele des Ausschusses deutlich. So sollte zunächst der Versuch unternommen werden, die Kriegsbeschädigten in ihren alten Arbeitsstellen zu beschäftigen. Es folgen Abstufungen, welche sich auch nach dem Grad der erlittenen Verwundung richteten.[11] Besonders im Bereich der Landwirtschaft und in öffentlichen Betrieben ‒ hier werden besonders die Werkstätten der Heeresverwaltung und ähnliche Stellen erwähnt ‒ sollten Kriegsversehrte wieder beschäftigt werden. Eine weitere Frage, welche nicht abschließend geregelt wurde, war die nach dem Zeitpunkt des Ausbildungsbeginns bei Kriegsversehrten, die nicht wieder in ihren alten Beruf eingegliedert werden konnten. Fraglich war hier, ob die Ausbildung bereits während der Lazarettbehandlung, des Aufenthalts bei Ersatztruppenteilen oder erst nach der Entlassung aus der Armee erfolgen sollte.
Auch der Personenkreis der potentiellen Berufsberater wurde festgelegt und sollte vor allem aus Ärzten und Lehrern, aber auch aus Mitarbeitern der gewerblichen Aufsichtsorgane und Berufsgenossenschaften bestehen.
War mit einer solchen Strategie der Anfang bereits gemacht, so fehlte über die gesamte Dauer des Krieges eine gesetzliche Grundlage für die Versorgung der Kriegsbeschädigten. Erst mit der Verordnung über die soziale Kriegsbeschädigten- und Kriegshinterbliebenenfürsorge vom 8. Februar 1919 und durch das Gesetz über die Kosten der Kriegsbeschädigten- und Kriegshinterbliebenenfürsorge vom 8. Mai 1920 wurde eine normative Grundlage geschaffen.[12]
Betrachtet man die Ausführungen des Reichsauschusses, so könnte man einen ausgeprägten Altruismus attestieren. Dies mag auch auf einige Mitglieder des Ausschusses zutreffen, jedoch darf nicht über den Umstand hinweggesehen werden, dass viele Zeitgenossen einen Sieg im Krieg nicht nur von der Anzahl der Soldaten abhängig machten, sondern vielmehr auch der „Wirtschaftskrieg“ gewonnen werden musste. In diesem Zusammenhang spielten die Kriegsbeschädigten eine wichtige Rolle bei der industriellen Produktion Deutschlands. Damit die deutsche Industrie ihre Kriegsproduktion weiter aufrechterhalten und womöglich sogar steigern konnte, war eine schnelle Genesung und Unterbringung der Kriegsversehrten in kriegswichtigen Betrieben auch ein Grund für die Tätigkeit vieler Zeitgenossen. Das Ergebnis war ein Zurückstellen des altruistischen Gedankens hinter den Nationalismus und Patriotismus des Ersten Weltkriegs.
Bearbeitung: Hendrik Mechernich
[1] In der Rheinprovinz sind allein für das Jahr 1918 ca. 103.000 Kriegsbeschädigte nachgewiesen. Vgl. dazu: Nils Löffelbein, „Aus Krüppelnot empor zum Heldentum!“, Männlichkeitsvorstellungen und Kriegsopferfürsorge in Westfalen und im Rheinland während des Ersten Weltkriegs, in: Geschichte im Westen 29 (2014), S. 47-74, hier: S. 51.
[2] Archiv des Landschaftsverbandes Rheinland, Bestand 6 PV Hauptfürsorgestelle vor 1955, Nr. 50483, Bl. 11, Berichterstattung über die Durchführung der Kriegsbeschädigtenfürsorge auf der außerordentlichen Landesdirektoren-Konferenz am 25. August 1915 im Landeshause der Provinz Brandenburg.
[3] Vgl. ebd., Bl. 12 f., Schreiben Landeshauptmann Ludwig von Renvers an den Landesdirektor von Brandenburg Joachim von Winterfeldt vom 3. November 1915.
[4] Vgl. ebd., Bl. 13.
[5] Vgl. ebd., Bl. 32, Schreiben Oberbürgermeister Hermann Geib an einen nicht namentlich erwähnten Landesrat. Aus dem Inhalt und weiteren Schriftstücken geht jedoch hervor, dass es sich um Johannes Horion handeln muss. Der Brief ist ferner undatiert, kann aber aufgrund des Inhalts in den November des Jahres 1915 gelegt werden.
[6] Vgl. ebd., Bl. 34 ff., Schreiben Landeshauptmann Ludwig von Renvers an den Landesdirektor von Brandenburg Joachim von Winterfeld vom 23. November 1915.
[7] Ebd., Bl. 36.; ebenfalls im Jahr 1915 wurde ein Tätigkeitsausschuss der Kriegsbeschädigtenfürsorge der Rheinprovinz eingerichtet. Vgl. dazu: Löffelbein, „Aus Krüppelnot empor zum Heldentum!“, S. 59.
[8] Vgl. ebd., Schreiben Landeshauptmann von Renvers an Landesdirektor von Winterfeldt vom 5. Januar 1916, Bl. 86.
[9] Vgl. Christoph Sachße / Florian Tennstedt, Geschichte der Armenfürsorge in Deutschland, Bd. 2: Fürsorge und Wohlfahrtspflege 1871-1929, Stuttgart u.a. 1988, S. 55.
[10] Vgl. ALVR, Nr. 50483, Bl. 110, Protokoll des Sonderausschusses für Berufsberatung und Ausbildung vom 18. Dezember 1915.
[11] Sollte eine Wiederbeschäftigung im alten Beruf nicht möglich sein, sollte eine Ausbildung in einem Sondergebiet des alten Berufes, eine Zuführung in verwandte Berufe, in einen neuen, die Arbeitskraft des Kriegsversehrten „voll ausnutzenden“ Beruf, die Überführung in einen sogenannten Verlegenheitsberuf (Pförtnerstelle u.ä.) oder eine Beschäftigung im öffentlichen Dienst angestrebt werden. Ungelernte Kriegsbeschädigte sollten eine Berufsberatung erhalten. Vgl. ebd.
[12] Vgl. Sachße / Tennstedt, Armenfürsorge, S. 55.