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Die Fassade eines Gebäudes ist abgebildet.

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im Rheinland

16. Februar 1908: Speis‘ und Trank im Roten Haus

Die feine Küche einer wohlhabenden Familie.

Dieses Datum markiert den letzten Rezepteintrag von Johanna Maria Scheibler, der Ehefrau von Johann Georg Scheibler (1842-1906). Er ist ein Nachfahre von Johann Heinrich Scheibler (1705-1765), dem berühmten Monschauer Tuchfabrikanten, dessen denkmalwürdiges Rote Haus noch heute seine Geschichte erzählt [1]. 1908 ist zugleich auch das Jahr, in welchem die Firma „Louis Scheibler Sohn“ als letzte Grob- und Feintuchfabrik Monschaus für immer ihre Pforten schließt.

Diese Schließung änderte jedoch nichts daran, dass die Familie Scheibler über die Jahrhunderte hinweg, ausgehend von der Gründung der ersten Scheiblerischen Tuchfabrik, eine von Wohlstand geprägte Familie blieb. Auch das von Johanna Maria Scheibler sorgfältig, mit handschriftlichen Kochrezepten geführte Büchlein, zeugt von diesem Wohlstand. Dass sie es in den Räumlichkeiten des Roten Hauses verfasst hat, ist sehr unwahrscheinlich, denn von 1875 bis 1909 war das Gebäude nicht im Besitz der Familie Scheibler. Und die Familie hat sich, obwohl fast alle Familienmitglieder ihr berufliches Standbein in der Tuchfabrikation fanden, weit über Monschau hinaus verstreut. Sicher ist, dass das prachtvolle Haus für ihren Wohlstand wesentlich mitverantwortlich war.

Nicht nur aus architektonischer Sicht ist das Rote Haus in Monschau ein für das 18. Jahrhundert bemerkenswert pompöses Bauwerk, sondern es stellt zugleich ein manifestes Zeugnis bürgerlicher Unternehmenskultur dar. Das fünfgeschossige Wohn- und Geschäftshaus ließ Johann Heinrich Scheibler, der durch die aufblühende Tuchmacherei zu internationalem Ansehen gelangt war, zwischen 1756 und 1765 ganz im Stile des Spätbarocks und unter Einfluss des aus Frankreich herrührenden Rokokos erbauen. Wenn er selbst das aufgrund seiner Farbgebung so bezeichnete Rote Haus auch nicht mehr bewohnen konnte, so taten es doch seine Nachkommen, die das Unternehmen ihres Vaters weiterführten. Die Aufteilung des Hauses in einen Wohn- sowie einen Geschäftsbereich hatte in erster Linie praktische Gründe, da das Geschäft der Tuchmacherei ein Familienbetrieb war.


Das Rote Haus als steinerne Verknüpfung von Leben und Arbeiten war jedoch nicht nur aus rein praktischen Gründen vorteilhaft, sondern verfestigte auch das Ansehen der zu Reichtum und Wohlstand gelangten Unternehmerfamilie. Nach außen hin für jedermann sichtbar, demonstrierte sich die Scheiblerische Dynastie eindrucksvoll mit einem strengen und monumentalen Bauwerk. Im Innern präsentierte man sich den neuen gesellschaftlichen Kreisen als wohlhabende Bürger, mit edlem Mobiliar, luxuriös verarbeiteten Materialien und Innendekor, kostbarem Porzellan sowie feinen und erlesenen Speisen und Getränken. Vor allem durch die internationalen Kontakte wird es der Familie Scheibler möglich gewesen sein, an Genüsse und Kostbarkeiten auch aus ferneren Ländern zu gelangen. Genussmittel wie Kaffee, Tee, aber auch Zucker waren um 1800, anders als heute, kostbar und es war nur wohlhabenden Personen ihr Konsum möglich. Kaum verwunderlich also, dass sich ein Sohn Johann Heinrich Scheiblers, namentlich Wilhelm Scheibler (1737-1797), mit seiner Ehefrau Theresia beim Kaffee- oder Teetrinken gerne hat porträtieren lassen [2]. Auch zeigt das reiche Inventar an Küchenutensilien (Kessel, Geschirr, Bestecke, Gewürzreibe und Mörser), dass dem Essen und seinen Gewohnheiten im Roten Haus die Bedeutung seiner Zeit als Statussymbol beigemessen wurde [3].


Galt im ausgehenden Mittelalter noch die Quantität von Speisen und die Vielfalt an Fleischsorten als Aushängeschild einer gut situierten Küche, so änderte sich dies im Verlauf der Frühen Neuzeit deutlich. Durch den Ausbau des internationalen Handels, vor allem durch die neuen Seewege, entdeckte man neue Nahrungs- und Genussmittel sowie Gewürze, deren Erwerb kostspielig war. Gerade im Barock verfeinerte sich die Esskultur und man legte Wert auf das Feine und Delikate beim Essen. Die Quantität wich zugunsten der Qualität der Speisen. Besondere Beliebtheit wurde dem Neuen und Außergewöhnlichen zugesprochen, das nur schwer erreichbar war; dazu zählten auch außergewöhnliche Rezepturen, vornehmlich aus Frankreich, später auch aus anderen Ländern [4].

Johanna Maria Scheibler ist 1908, als sie das letzte Kochrezept in ihr Büchlein schreibt, bereits verwitwet. Der Titel ihres letzten Rezeptes lautet „Selma’s sehr gute nicht sehr süsse Pflaumen Marmelade sehr bekömmlich für den Magen“ und stellt ein typisches Beispiel von Rezeptgut bürgerlicher Kochbücher des mittleren 19. Jahrhunderts dar [5]. Neben einem auf die Praxis ausgelegten Schreibstil, werden auch von Johanna Maria Scheibler Tipps und Ratschläge mitgegeben, die ganz auf die ordentliche Führung eines bürgerlichen Haushalts ausgelegt waren [6]. So hält sie beispielsweise im Schlussteil „Gemein Nötiges“, also allgemeine und nützliche Notizen, wie z. B. zur Entfernung von Obst- oder Weinflecken, bereit.

Wann sie mit den Eintragungen in ihr Buch begonnen hat, ist nicht genau zu bestimmen, da eine Datumsangabe fehlt. Die Verwendung verschiedener Schreibfedern bei relativ gleichbleibendem Schreibduktus zeigt jedoch, dass sie es in relativ kurzer Zeit in mehreren Schüben verfasst hat. Die darinstehenden Kochrezepte wurden sowohl von Vorlagen abgeschrieben als auch selbst verfasst bzw. aus der mündlichen Tradierung heraus niedergeschrieben. Es ist durchaus möglich, dass sie Rezepte aus dem sehr bekannten Werk „Allgemeines deutsches Kochbuch für bürgerliche Haushaltungen“ ihrer Verwandten Sophia Wilhelmine Scheibler (ca. 1749-1829) übernommen hat [7].

Johanna Maria Scheibler selbst lebte in Krefeld und in London, was die durchgängige Mischung von englisch- und deutschsprachigem Rezeptgut erklärt. Besonders reichhaltig sind Rezepte für Puddings, Cremes, Kuchen und Saucen. Süßspeisen generell machen knapp 30% der Rezepte aus. Gerade Cremes und Saucen zeigen den noch im ausgehenden 19. Jahrhundert vorhandenen Einfluss der französischen Esskultur [8]. Zutaten wie beispielsweise Schokolade waren zwar im 19. Jahrhundert besser verfügbar, jedoch nicht günstig und spiegeln damit noch immer den sozialen Status der Schreiberin. Reis, der bis in die Mitte des 18. Jahrhunderts als „feine Speise“ nur den Wohlhabenden zugänglich war, fand im 19. Jahrhundert zunehmend Einlass in die Festspeisen der einfachen Leute [9]. Dass Johanna Maria Scheibler vielfach Reisrezepte für den Alltag kennt, zeugt davon, dass Reis für sie ein gängiges bzw. alltägliches und leicht erreichbares Nahrungsmittel war. Für einfache, auf dem Land lebende Leute waren Rezepte wie die von Johanna Maria Scheibler vielfach jedoch nicht nachkochbar, da ihnen der Zugang zu den benötigten Zutaten fehlte.

Wie genau die Küche im „Roten Haus“ ausgesehen hat, lässt sich anhand des heute noch vorhandenen bzw. durch Rückkäufe erworbenen Kücheninventars relativ gut nachvollziehen. Welche Speisen und Getränke im „Roten Haus“ genau gereicht wurden, dafür gibt es nur wenige Zeugnisse, wenn auch aufgrund des Wohlstandes der Unternehmerfamilie von durchaus sehr Erlesenem und Exquisitem ausgegangen werden kann. An der Wende zum 20. Jahrhundert bezeugt das handschriftliche Kochbüchlein von Johanna Maria Scheibler ganz klar die Küche des wohlhabenden Bürgertums, zu der sie seit den Anfängen der erfolgreichen Tuchmacherfabrikation durch Johann Heinrich Scheibler gezählt werden muss.

Das von Johanna Maria Scheibler abgefasste Kochbüchlein stammt aus der als Depositum übernommenen Familienbibliothek der Scheiblers, die 1963 im Zuge der Gründung der „Stiftung Scheibler-Museum Rotes Haus“ unter Beteiligung des Landschaftsverbandes Rheinland ins Leben gerufen wurde. Neben diesem existieren zwei weitere handschriftliche Kochbücher, deren Verfasser ungeklärt sind. Darüber hinaus sind verschiedene, gedruckte Ausgaben des im frühen 19. Jahrhundert allgemein bekannten Kochbuchs „Allgemeines deutsches Kochbuch für bürgerliche Haushaltungen“ von Sophia Wilhelmine Scheibler (ca. 1749-1829) vorhanden.


Transkription

Selma’s sehr gute nicht zu süsse Pflaumenmarmelade sehr bekömmlich für den Magen

Die rohen getrockneten
Pflaumen werden zuerst ausgekernt, dann kommen sie
auf das Feuer mit ganz wenig Wasser u[nd] werden ungefähr 8-10
Stunden gekocht. ½ Stunde vorher ein wenig Zucker daran
gethan; auf 10 Pfund 2 Pfund Zucker. Sie werden dann 1-2 Nächte
in den Backofen gestellt; tags über braucht man dem nicht
tags über das Kochen nicht zu überwachen, hat den Herd frei
für andre Sachen. Sie ziehen dabei schön aus, thut dann
Zucker nach Geschmack daran; auf die Art braucht man
nicht ganz 2 Pfund Zucker auf die 10 Pfund. – Im Herbst gibt es
immer eine so reichliche Pflaumenernte, dass sie den Boden
auf den sie fallen ganz verderben für neues Pflanzen. Man
lässt desshalb all d[ie] Pflaumen durch Arbeitslose aufheben
und Alle in eine Kiste oder Sack, eine Reisesack f[ür] schmutzige
Wäsche, einen grossen; der wenn zu gross bindet man ihn zu
da bis wo er voll ist; der Bügls oben bleibt ruhig an seiner Stelle.

[Quelle: ALVR, RH, Nr. 522, S. 69]

Bearbeitung: Ariane Jäger

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[1] Das Rote Haus in Monschau kann von Interessierten zu den entsprechenden Öffnungszeiten besucht werden. Weitere Informationen erhalten Sie hier.
[2] Vgl. dazu John, Hartmut (Hrsg.): Die Lust zu wohnen. Das Rote Haus in Monschau. Mit Texten von Anne Baghdady. Köln 1998, S. 10ff.
[3] Ebd., S. 68-77.
[4] Teuteberg, Hans-Jürgen / Wiegelmann, Günter: Der Wandel der Nahrungsgewohnheiten unter dem Einfluss der Industrialisierung. Göttingen 1972 (= Studien zum Wandel von Gesellschaft und Bildung im Neun¬zehnten Jahrhundert 3), S. 38.
[5] Archiv des Landschaftsverbandes Rheinland (ALVR), 9 Rotes Haus (RH), Nr. 522, S. 69.
[6] Vgl. hierzu ebd.; dort gibt die Schreiberin beispielsweise den Tipp, man solle die von „Arbeitslose[n]“ aufgesammelten Pflaumen in einer Kiste oder in einem speziellen „Reisesack“ aufbewahren.
[7] Scheibler, Sophia Wilhelmine: Allgemeines deutsches Kochbuch für bürgerliche Haushaltungen oder gründliche Anweisung wie man ohne Vorkenntnisse aller Arten Speisen und Backwerk auf die wohlfeilste und schmackhafteste Art zubereiten kann. Berlin 1828.
[8] Cowan, Brian: „Neue Welten, neue Geschmäcker. Speisemoden ab der Renaissance“, in: Freedmann, Paul (Hrsg.): Essen. Eine Kulturgeschichte des Geschmacks. Darmstadt 2007, S. 221.
[9] Wiegelmann Günter: Alltags- und Festspeisen in Mitteleuropa. Innovationen, Strukturen und Regionen vom späten Mittelalter bis zum 20. Jahrhundert. Münster [u.a.] 2006, S. 136.


Benutzte und weiterführende Quellen und Literatur

  • Archiv des Landschaftsverbandes Rheinland (ALVR), 9 Rotes Haus (RH), Nr. 522, Kochrezepte, aufgeschrieben von Frau Georg Scheibler 1842-1906, um 1900.
  • ALVR, 9 RH, Nr. 578, Buch mit handschriftlichen Kochrezepten […], 1892.
  • ALVR, 9 RH, Nr. 579, handschriftliche Kochrezepte, um 1815.
  • ALVR, 9 RH, Nr. 652, 653, 693, 694, verschiedene Druckausgaben von Sophia Wilhelmine Scheiblers allgemeinem Kochbuch, 1815-1924.
  • ALVR, Bild 28, Nr. 2, Außenaufnahme des Roten Hauses, 1895, Fotograf unbekannt.
  • ALVR, Bild 28, Nr. 79, Alte Küche (restauriert), um 1970, Fotograf unbekannt.
  • Cowan, Brian: „Neue Welten, neue Geschmäcker. Speisemoden ab der Renaissance“, in: Freedmann, Paul (Hrsg.): Essen. Eine Kulturgeschichte des Geschmacks. Darmstadt 2007, S. 197-231.
  • Hartmann, Christine / Immel, Isabell / Junck, Sibylle: Das Rote Haus in Monschau: ein Rundgang. Hrsg. von der Stiftung Scheibler-Museum Rotes Haus Monschau. [Wechselnde Verlagsorte] 1997 (= Publikationen der Abteilung Museumsberatung, Landschaftsverband Rheinland, Archiv- und Museumsamt 18).
  • John, Hartmut (Hrsg.): Die Lust zu wohnen. Das Rote Haus in Monschau. Mit Texten von Anne Baghdady. Köln 1998.
  • Scheibler, Sophie Wilhelmine: Allgemeines deutsches Kochbuch für bürgerliche Haushaltungen oder gründliche Anweisung wie man ohne Vorkenntnisse aller Arten Speisen und Backwerk auf die wohlfeilste und schmackhafteste Art zubereiten kann. Berlin 1828.
  • Scheibler, Sophie Wilhelmine: Allgemeines deutsches Kochbuch für alle Stände. Neu bearbeitet von E. Thielemann, 46. Auflage, Leipzig 1924.
  • Schoenen, Paul: „Bürgerliche Wohnkultur des 18. Jahrhunderts in Aachen und Monschau“, in: Zeit-schrift des Rheinischen Vereins für Denkmalpflege und Heimatschutz, Bd. 1 (1937), S. 3-97.
  • Schoenen, Paul: Das Rote Haus in Monschau. Köln 1968.
  • Teuteberg, Hans-Jürgen / Wiegelmann, Günter: Der Wandel der Nahrungsgewohnheiten unter dem Einfluss der Industrialisierung. Göttingen 1972 (= Studien zum Wandel von Gesellschaft und Bildung im Neunzehnten Jahrhundert 3).
  • Wiegelmann Günter: Alltags- und Festspeisen in Mitteleuropa. Innovationen, Strukturen und Regionen vom späten Mittelalter bis zum 20. Jahrhundert. Münster [u.a.] 2006.
  • Zahn, Wolfgang: Das Rote Haus in Monschau. Neuss 1981 (= Rheinische Kunststätten, Rheinischer Verein für Denkmalpflege und Landschaftsschutz 76).

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