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im Rheinland

5. März 1940: Beginn der „Euthanasie"-Transporte

Das Ausmaß der systematischen Tötung psychisch erkrankter Patientinnen und Patienten aus Bedburg-Hau während des Nationalsozialismus

Menschen mit körperlichen und geistigen Behinderungen wurden seit jeher gesellschaftlich ausgegrenzt und diffamiert. Während des Nationalsozialismus nahm jene Diskriminierung ein erschreckendes Ausmaß an: Tausende Patientinnen und Patienten der Rheinischen Provinzial-Heil- und Pflegeanstalten (PHP) wurden Opfer eines Systems, welches ihre systematische Tötung beabsichtigte. In der PHP Bedburg-Hau erfolgten im März 1940 die ersten Transporte psychisch Erkrankter in andere Anstalten. Im Rahmen der sogenannten „Märzdeportationen“ wurden viele von ihnen unmittelbar in die Tötungsanstalten Grafeneck und Brandenburg gebracht, wo sie in den Gaskammern ermordet wurden.

Die PHP Bedburg-Hau wurde im Jahre 1912 eröffnet und stand unter der Verwaltung des Rheinischen Provinzialverbandes und seit 1953 unter der des Landschaftsverbandes Rheinland (LVR). Die LVR-Klinik liegt im Kreis Kleve und widmet sich seit ihrer Gründung der Betreuung, Behandlung und Pflege von psychisch und neurologisch erkrankten Menschen. Heutzutage werden dort sowohl Erwachsene als auch Kinder und Jugendliche behandelt. Das Museum der Klinik ermöglicht einer interessierten Öffentlichkeit, die Geschichte der Einrichtung kennenzulernen. Besucherinnen und Besuchern wird mit Hilfe verschiedener Exponate ein spannender Einblick in die Entwicklung der Psychiatrie geboten. Auch die Jahre zwischen 1933 und 1945, welche für Bedburg-Hau ein dunkles Kapitel darstellen, werden hier aufgearbeitet. [1]

Das nationalsozialistische Regime propagierte eine Ideologie, welche auf Grundlage der Theorie einer Rassenhygiene das Ziel verfolgte, „wertvolles" Erbgut „rein" zu halten und „geringwertige Rassen" zu verdrängen. Menschen mit psychischen Erkrankungen galten in dieser menschenverachtenden Weltanschauung als „minderwertig“. Bereits im Vorfeld zur „Euthanasie“ [2] wurde in den Rheinischen Anstalten eine Einteilung in „gutes" und „schlechtes" Erbgut vorgenommen. Zwischen 1934 und 1935 kam es in der PHP Bedburg-Hau zu ersten Zwangssterilisationen. 366 Patientinnen und Patienten, die zuvor als „erbkrank“ eingestuft worden waren, wurden - auch gegen ihren Willen - durch einen chirurgischen Eingriff unfruchtbar gemacht. [3] Dies setzte den Grundstein für eine weitere Unterscheidung zwischen „lebenswerten" und „lebensunwerten" Leben in den Folgejahren.

Rückwirkend zum 1. September 1939 unterzeichnete Adolf Hitler einen Erlass an seinen Begleitarzt Prof. Karl Brandt und an den Leiter der „Kanzlei des Führers“ Philipp Bouhler, welcher besagte, „[...] daß nach menschlichem Ermessen unheilbar Kranken bei kritischer Beurteilung ihres Krankheitszustandes der Gnadentod gewährt werden kann.“ [4] Dieser Erlass stellte die Legitimation für alle Verbrechen dar, welche fortan körperlich und geistig eingeschränkten Menschen während der nationalsozialistischen Herrschaft angetan wurden. Zur Durchführung des sogenannten „Gnadentodes" wurde die Aktion „T4" [5] ins Leben gerufen. Sie bestand aus vier organisatorischen Einheiten, darunter unter anderem die „Gemeinnützige Stiftung für Anstaltspflege" und die „Gemeinnützige Kranken-Transport-Gesellschaft", welche für die Abwicklung der „Euthanasie"-Transporte zuständig waren. Sie regelten den Ablauf der Deportationen von der Begutachtung der Anstaltsbelegschaft, über den Abtransport bis hin zur Bereitstellung der Tötungsmittel. [6]


Im März 1940 sollte in der PHP Bedburg-Hau ein Marinereservelazarett eingerichtet werden. Zu diesem Zwecke war vorgesehen, einen Großteil der psychisch Erkrankten schnellstmöglich zu verlegen. „Rund 2.200 Patienten wurden innerhalb einer Woche, in der Zeit vom 26. Februar bis zum 4. März 1940, von einer aus Berlin angereisten Ärztekommission überprüft. In der darauffolgenden Woche wurden über 1.700 von ihnen aus der Rheinprovinz hinausverlegt, der überwiegende Teil direkt in den Tod nach Brandenburg und Grafeneck." [7]

Die Auswahl der zu deportierenden Patientinnen und Patienten erfolgte mit Hilfe des Formulars „Meldebogen 1". In den übrigen Rheinischen Anstalten wurden Meldebögen erst einige Monate später, ab Juni 1940, ausgefüllt. Bedburg-Hau war dementsprechend die erste Anstalt, in welcher derartige Beurteilungsformulare zum Einsatz kamen.

Auf den Bögen wurden neben den Stammdaten der Betroffenen (Name, Geburtsdatum etc.) vor allem die jeweiligen Beschwerden erfasst. Darüber hinaus wurde auch aufgenommen, ob mit einer zeitnahen Entlassung zu rechnen sein könnte. Zu den Symptomen, welche die Kommission einzutragen hatte, zählten neben Krankheiten wie Schizophrenie auch Klassifikationen wie „Idiot" oder „Schwachsinn".

Obwohl der „Meldebogen 1" die Grundlage zur Entscheidung über Leben oder Tod darstellte, erfolgte eine Untersuchung der Patientinnen und Patienten oder gar eine Sichtung ihrer Akten nicht. Die Berliner Gutachter entschieden darüber, ob die Betroffenen deportiert werden sollten, was in den meisten Fall die anschließende Ermordung bedeutete, oder ob sie in der PHP Bedburg-Hau bleiben durften. [8]

Bereits einen Tag nach Abschluss der Beurteilungen wurden die ersten Abtransporte aus Bedburg-Hau vorgenommen. Am 5. März wurden 150 Männer nach Waldheim verlegt. Weitere 789 Menschen wurden am 6. und 7. März in die Anstalten in Pfafferode, Haldensleben, Grafeneck, Zwiefalten, Eichberg und Herborn gebracht. Am 8. März wurden schließlich 794 Patientinnen und Patienten nach Weilmünster, Altscherbitz, Jerichow, Görden und Brandenburg deportiert. Insgesamt wurden in den drei Tagen vom 5. bis zum 8. März 1.733 Verlegungen aus der PHP Bedburg-Hau durchgeführt. [9]

„Die Tatsache, dass viele Transporte von Pflegerinnen und Pflegern aus Bedburg-Hau begleitet wurden, die zum Teil die Patienten an den Zielorten noch eine Weile weiterbetreuten, mag dazu beigetragen haben, dass kein Verdacht aufkam. Auffällig war aber, dass die zahlenmäßig größten Transporte keine Begleitung aus Bedburg-Hau hatten. Deshalb erfuhr man dort zunächst auch nichts über die unmenschlichen Bedingungen des Transportes. [...] Aus den Zielorten der nicht vom Personal begleiteten Transporte nach Brandenburg (335 Personen) und Grafeneck (317 Personen) trafen bald massenhaft Todesmeldungen ein, was großes Misstrauen erweckt haben muss. In der Zeit vom 1. bis 30 April wurden allein aus Grafeneck 276 Patienten und Patientinnen als verstorben gemeldet." [10]


Die ausgewählten Männer und Frauen wurden in mehreren Waggons aus der Anstalt in Bedburg-Hau abtransportiert. Die Überführung in die neue Anstalt inklusive der Ausladung konnten sich auf Grund der eingeschränkten Mobilität einer Vielzahl der Erkrankten auf einen Zeitraum von bis zu 48 Stunden ausdehnen. Die für die Tötungsanstalt Grafeneck ausgewählten Personen wurden am Bahnhof abgeholt und mit Last- und Krankenwagen weitertransportiert. Bei den am 5. März nach Waldheim verlegten Männern handelte es sich um forensische Patienten. Sie waren in Bedburg-Hau in Bewahrungshäusern untergebracht und als besonders gefährlich eingestuft. Da die Zahl der vorgegebenen 150 Patienten mit den in Bedburg-Hau ansässigen Straftätern nicht erreicht werden konnte, wählte man weitere als harmlos geltende Patienten für die Deportation aus und schickte auch sie absichtlich in den Tod. Dasselbe Schicksal traf weitere 150 forensische Patienten aus der PHP in Düren. [11]

Mit den Märzdeportationen aus der PHP Bedburg-Hau im Jahre 1940 fingen die Transporte psychisch erkrankter Menschen in Tötungsanstalten und somit auch die sogenannten „Euthanasie“- Transporte an. Die Verlegungen wurden erst 1944 eingestellt, insgesamt wurden in dem Zeitraum von 1939 bis 1944 etwa 2.816 [12] Menschen aus der PHP Bedburg-Hau deportiert, ein Großteil von ihnen wurde ermordet. Ihre Angehörigen, welche zuvor nicht über die geplante Verlegung benachrichtigt worden waren, wurden vielmals mit offenen Fragen zurückgelassen oder durch Todesmeldungen mit falschen Angaben über Ursache und Umstand des Todes informiert. Die „Zentralrechnungsstelle Heil- und Pflegeanstalten“, Teil der „T4“-Organisation, täuschte oftmals selbst nach der Ermordung der Erkrankten vor, dass diese noch immer in den Anstalten untergebracht seien, um weiterhin Pflegegeld für sie zu beziehen.

Psychisch erkrankte Menschen wurden während des Nationalsozialismus unter dem Vorwand des Wirtschaftlichkeitsdenkens ihres Rechts auf Leben beraubt. Die oben stehende Liste verdeutlicht, dass sie zu Zahlen degradiert wurden und ihre Einzelschicksale für die Nationalsozialisten nicht von Bedeutung waren.

Aus heutiger Sicht erscheint bei der Aufarbeitung dieser Thematik vor allem auch die Frage der Verantwortung und Schuld der Ärzte und des Pflegepersonals von besonderer Bedeutung für die wissenschaftliche Forschung. Die menschenunwürdigen Bedingungen der Deportationen, die fehlende Begleitung bei Transporten in die Tötungsanstalten sowie die Masse an Todesmeldungen sprechen dafür, dass in den Rheinischen Anstalten allgemein bekannt gewesen sein muss oder zumindest stark vermutet werden konnte, was mit der in die Tötungsanstalten Grafeneck und Brandenburg und ins Zuchthaus Waldheim verlegten Patientinnen und Patienten geschah: „Niemand, der diese über viele Seiten laufenden Einträge zu Gesicht bekam, konnte irgendeinen Zweifel daran haben, dass diese Menschen eines unnatürlichen Todes gestorben waren.“ [13]

Auch der Landschaftsverband Rheinland beschäftigt sich in seinem Projekt mit der Vermittlung der Geschichte der „NS-Euthanasie“ im Rheinland an Schülerinnen und Schüler: Ein viertes Medienpaket, welches aus einem Arbeitsheft, einem einführenden Film sowie digitalen Materialien zur Unterrichtsvorbereitung besteht, trägt den Titel „Mein Gewissen ist rein…“. Es bietet einen grundlegenden Einblick in das Geschehen der psychiatrischen Anstalten nach Kriegsende, die Entnazifizierung im Rheinland und den gesellschaftlichen Umgang mit Täterinnen und Tätern, welche an der Euthanasie beteiligt gewesen sind. Bildungseinrichtungen stehen die Pakete kostenlos zur Verfügung.

Weitere Informationen zu den Medienpaketen finden Sie hier.

Bearbeitung: Samanta Kaczykowski

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[1] Vgl. Website der LVR-Klinik Bedburg-Hau
[2] Der Begriff „Euthanasie“ kommt aus dem Griechischen und steht in seiner ursprünglichen Bedeutung für einen „schönen" oder „angenehmen" Tod. Er wird auch verwendet, um die von Patienten/innen gewünschte Sterbehilfe zu bezeichnen. Weiterführende Quellen unter: Bundeszentrale für politische Bildung
[3] Vgl. Ludwig Hermeler: Die Euthanasie und die späte Unschuld der Psychiater. Massemord, Bedburg-Hau und das Geheimnis rheinischer Widerstandlegenden. Essen 2002, S. 35.
[4] Ebd., S. 50.
[5] Als Tarnung für die systematische Massentötung wurde der Name "T4" ausgewählt. Es handelt sich dabei um eine Abkürzung für die Anschrift „Tiergartenstraße 4". Dort war die Zentraldienststelle der Organisationen untergebracht. Vgl. Ebd., S. 50.
[6] Vgl. Wolfgang Franz Werner: Die Provinzial-Heil- und Pflegeanstalt Bedburg-Hau in der NS-Zeit. In: Wolfgang Schaffer u.a. (Hrsg.): 100 Jahre LVR-Klinik Bedburg-Hau. Von der Provinzial-Heil- und Pflegeanstalt zur LVR-Klinik. Festschriften zum 100-jährigen Bestehen 1912-2012. Essen 2013, S. 117-150, S. 130.
[7] Ebd., S. 131.
[8] Vgl. Ludwig Hermeler: Die Euthanasie und die späte Unschuld der Psychiater, S. 50 f.
[9] Vgl. Wolfgang Franz Werner: Die Provinzial-Heil- und Pflegeanstalt Bedburg-Hau in der NS-Zeit, S. 132.
[10] Ebd., S 132 f.
[11] Ebd., S. 132 ff.
[12] ALVR, 14295 Teil 2, Bl. 103.
[13] Wolfgang Franz Werner: Die Provinzial-Heil- und Pflegeanstalt Bedburg-Hau in der NS-Zeit, S. 133.


Weiterführende Quellen und Literatur:

  • Archiv des Landschaftsverbandes Rheinland, Bestand Psychiatrie und erweiterte Armenpflege.
  • Bouresh, Bettina und Sparing, Frank (Red.): Jüdische Psychiatriepatienten zwischen NS-Euthanasie und Holocaust. Köln 2017.
  • Bouresh, Bettina und Sparing, Frank (Red.): „Mein Gewissen ist rein…“. Der Umgang mit den Tätern der NS-Euthanasie im Rheinland. Köln, 2019.
  • Bouresh, Bettina und Sparing, Frank (Red.): Transport in den Tod. Schülerarbeitshefte zur rheinischen Geschichte. Köln 2014.
  • Hermeler, Ludwig: Die Euthanasie und die späte Unschuld der Psychiater. Massemord, Bedburg-Hau und das Geheimnis rheinischer Widerstandlegenden. Essen 2002.
  • Jörissen, Josef: Chroniken der Gemeinde Bedburg-Hau. Kleve 1990.
  • Schaffer, Wolfgang u.a. (Hrsg.): 100 Jahre LVR-Klinik Bedburg-Hau. Von der Provinzial-Heil- und Pflegeanstalt zur LVR-Klinik. Festschriften zum 100-jährigen Bestehen 1912-2012. Essen 2013.
  • Museum der LVR-Klinik Bedburg-Hau
  • Bundeszentrale für politische Bildung
  • Fotografie Provinzial-Heil- und Pflegeanstalt Bedburg-Hau um 1925: Horion, Johannes (Hrsg.): Die Rheinische Provinzialverwaltung. Ihre Entwicklung und ihr heutiger Stand. Düsseldorf 1925, S. 206.

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