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Die Fassade eines Gebäudes ist abgebildet.

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im Rheinland

28. Dezember 1925

„Es ist eine nicht zu beschreibende Begeisterung“ - Die rheinische Blindenfürsorge und die Einführung des Radios

Vor ziemlich genau einem Jahrhundert nahm der deutsche Rundfunk, genauer: der Hör-Rundfunk, seinen Anfang. Wenige Tage vor Weihnachten 1920 wurde vom Sender Königswusterhausen nahe Berlin erstmals ein Konzert übertragen, im Oktober 1923 schließlich lief der reguläre Sendebetrieb an. Bei dem Aufbau der Rundfunkstrukturen im Deutschen Reich spielte das Rheinland keineswegs eine Vorreiterrolle. Dies war den politischen Umständen geschuldet: Als Folge des Ersten Weltkriegs standen die linksrheinischen Gebiete und einige Brückenköpfe unter alliierter Besatzung, zeitweise auch das Ruhrgebiet. Der Rundfunk unterlag dem Besatzungsregime und war streng reglementiert, so dass später als in allen anderen deutschen Regionen eine regionale westdeutsche Sendegesellschaft gegründet werden konnte [1].

Erst als absehbar war, dass die Besatzungstruppen im Januar 1926 das nördliche Rheinland verlassen würden, änderten sich die Rahmenbedingungen für den Rundfunk. Besonders früh bemühte sich die Dürener Provinzial-Blindenanstalt darum, in den Kreis der Rundfunkteilnehmer vorzustoßen [2]. Am 28. Dezember 1925 meldete deren Direktor Horbach an den Landeshauptmann der Rheinprovinz: „Die Besatzungsbehörde hat die Anlage einer Rundfunkanlage mit Hochantenne in unserer Anstalt genehmigt.“ Aus einer Reichsschenkung könne die Anstalt einige Apparate erhalten, allerdings werde es notwendig sein, „einige Sachen“, wie zum Beispiel Lautsprecher, selbst zu kaufen. Knapp einen Monat später meldete Horbach allerdings, dass die Geräte in Düren nicht zu gebrauchen seien, denn es handelte sich um sogenannte Detektoren, die lediglich in einem Umkreis von etwa 30 km um einen Sender eingesetzt werden konnten. Dem festen Willen des Direktors, dem Rundfunk den Weg in seine Einrichtung zu ebnen, tat dieser Rückschlag jedoch keinen Abbruch: „Ich bitte im Hinblick auf die hervorragende Wichtigkeit der Sache gerade für Blinde eine ausgiebige, gute Radioanlage baldigst genehmigen zu wollen. […] Ich schlage vor, in der Aula einen Lautsprecher und in der angrenzenden Oberklasse eine Anlage für Kopfhörer anzubringen. Ersterer soll musikalischen Darbietungen für alle, letztere Vorträgen für ältere je nach dem Programm auszuwählende Zöglinge dienen.“


Im Februar fanden umfangreiche technische Versuche in der Dürener Anstalt statt, über die Provinzialbaurat Tarnow einen ausführlichen Bericht verfasste. Schwierigkeiten bereitete bereits das Anlegen einer funktionstüchtigen Antenne: Am einen Standort standen zu viele Bäume im Weg, nahe des Kesselhauses befürchtete man, dass die „Eisenmassen“ und die elektrischen Anlagen einen ungünstigen Einfluss ausüben würden, zumal bereits das Läuten der Schulklingel knackende Geräusche verursachte, und die zur Verfügungen stehenden Leitern reichten nicht aus, um die Antenne zwischen den Dächern verschiedener Gebäude zu spannen, was man zunächst für aussichtsreich gehalten hatte. Ein Dürener Händler, der seine Geräte gerne verkauft hätte, war „ganz hilflos mit seinen Apparaten“ und brauchte die Unterstützung des Gewerbelehrers. In jedem Fall legte man bei den Versuchen eine erstaunliche Experimentierfreude an den Tag: So gelang es beispielsweise „durch Benutzung der Messingteile eines Kronleuchters […], Barcelona klar und deutlich zu hören“. Tarnow äußerte seine Überzeugung, dass „gerade für die Blinden, welche im allgemeinen ein ganz besonderes fein entwickeltes Gefühl haben, […] nur der beste Apparat gut genug sein“ könne. Doch drängte der Direktor auf die zügige Installation eines Radios, zumal die Kinder in Düren ungeduldig darauf warteten. Offensichtlich waren aber gerade Neugier und Ungeduld ein nicht ganz nebensächliches Problem, denn nach weiteren Probeläufen im März meldete Direktor Horbach nach Düsseldorf: „Gestern sind hier erneute Versuche mit einem Rundfunkapparat angestellt worden. Dieser Apparat ist von zwei hiesige[n] Elektrotechniker[n] selbst gebaut worden; die Resultate waren wesentlich besser als die der damaligen Versuche. Wir hörten sehr kräftig und ziemlich lautrein Daventry, Berlin, Paris, Königsberg und andere. Zum Teil lag der bessere Erfolg vielleicht auch daran, dass die beiden Erbauer zuerst eine grössere Zeitspanne ganz allein an der Einstellung arbeiten konnte[n]. Erst als sie die Einstellung für beendet erklärten, wurde der Raum für Zuhörer frei gegeben.“ Wenigstens bis Juni wurden weitere Versuche mit Geräten verschiedener Hersteller durchgeführt, bis die Beschaffung eines Radios für die Dürener Anstalt tatsächlich umgesetzt wurde.

Einem Bericht vom September 1927 ist zu entnehmen, dass man in Düren zunächst offensichtlich gehofft hatte, den Rundfunk in das Unterrichtsgeschehen einbinden zu können. In der Praxis zeigte sich dann aber bald, dass die Radioanlage viel größeren Nutzen habe, „wenn sie in den Wohnhäusern, statt in Aula oder Unterrichtssälen untergebracht wird. Sie bietet dort ein sehr willkommenes Mittel zur Beschäftigung in der Freizeit.“ Dem Wunsch, zusätzlich zum Radio ein Grammophon zu beschaffen, um gleichzeitig im Knabenhaus und im Mädchenhaus für Unterhaltung sorgen zu können, erteilte der Provinzialverband mit Verweis auf die Empfindlichkeit der Geräte und den stetigen Bedarf nach neuen Platten jedoch eine Absage; stattdessen wurde Ende des Jahres ein zweites Radiogerät beschafft. Zwei Jahre später – der Rundfunk hatte mittlerweile sein Kinderprogramm ausgebaut – wurde schließlich eine dritte Anlage für das Haus, in dem die kleinen Kinder untergebracht waren, angeschafft.


Parallel zur Versorgung der Dürener Blindenanstalt mit einem Radioanschluss machte man sich in der Rheinprovinz Gedanken darüber, wie der Rundfunk die über das Land verteilt lebenden Blinden erreichen könnte [3]. Ein wichtiger Faktor hierbei war die anstehende Fertigstellung des Senders Langenberg, der im Januar 1927 den Betrieb aufnahm und eine bessere Rundfunkversorgung des Rheinlands versprach. Im Frühjahr 1926 veranstaltete zunächst die Oberpostdirektion Düsseldorf eine Spendensammlung für die Versorgung Blinder mit Radiogeräten; im Regierungsbezirk Köln erfolgte eine ähnliche Sammlung im folgenden Jahr, wenig später auch im Bezirk Koblenz. Während man darum bemüht war, möglichst allen Veteranen, die im Ersten Weltkrieg ihr Augenlicht verloren hatten, sofort einen Apparat zur Verfügung zu stellen, mussten "Zivilblinde", deren Zahl ungleich größer war (eine Schätzung vom Sommer 1926 ging von etwa 90 bis 100 "Kriegsblinden", aber 1100 bis 1200 "Zivilblinden" im Regierungsbezirk Düsseldorf aus), sich auf längere Wartezeiten einstellen. Die Beschaffungskosten konnten dadurch gesenkt werden, dass man den im Umkreis von 35 km um den Langenberger Sender lebenden Blinden günstigere Detektoren-Radios für etwa 20 Reichsmark zur Verfügung stellte, während bei weiterer Entfernung nur ein teurerer Röhrenapparat Empfang versprach, der 40 bis 80 Mark kostete. Für den großen Einsatz der Beteiligten wie auch die Spendenfreudigkeit der Bevölkerung spricht, dass der Anteil der mit Radios versorgten Blinden in kürzester Zeit stieg: Während man im Juli 1926 noch davon ausging, dass man nur 10% der "Zivilblinden" ein Gerät zur Verfügung stellen können würde, war diese Quote bis März 1927 auf zwei Drittel gestiegen. Bis Februar 1928 konnten aber bereits sämtliche Blinden in den Regierungsbezirken Köln und Düsseldorf, die sich ein Radiogerät wünschten, entsprechend versorgt werden.

Allerdings scheint der Zuspruch, auf den der Rundfunk insbesondere unter den blinden Rheinländerinnen und Rheinländern innerhalb kürzester Zeit traf, auch enorm gewesen zu sein – ganz im Gegensatz zur Meinung Bertolt Brechts, der behauptete, die Öffentlichkeit habe nicht auf den Rundfunk gewartet, sondern der Rundfunk auf die Öffentlichkeit. Im Februar 1927 meldete der Blindenfürsorgeverein, der federführend die Verteilung der Geräte organisierte, an den Landeshauptmann: „Die Ungeduld der Blinden betreffend Radio wird immer schlimmer.“ Wenig später schrieb die in Mönchengladbach tätige Bezirksblindenfürsorgerin Johanna Hoelters an den zuständigen Landesrat: „…aber überglücklich werde ich sein, wenn die 65 uns zugesagten Apparate endlich in meinen Besitz gelangen; denn ich kann mich des Ansturms in meiner Wohnung kaum mehr erwehren. Jeder Schicksalsgefährte will bei mir Radio hören. Es ist eine nicht zu beschreibende Begeisterung, und ich komme kaum mehr zu einem ruhigen Arbeiten; daher bin ich überfroh, wenn ich jedem Blinden seinen eigenen Apparat geben kann.“ In einem Dankesschreiben brachte der Blindenfürsorgeverein den Nutzen des Rundfunks knapp auf den Punkt: „Vielen Blinden wird damit in ihrer Einsamkeit ein Kunstgenuß, mannigfache Belehrung und Erbauung in schönster Form geboten.“

Eine weitere Facette brachte der Verein der blinden Akademiker Deutschlands ins Spiel, der sich im Juni 1927 in einem Schreiben an die Oberpostdirektion Düsseldorf für eine besondere Berücksichtigung seiner Klientel bei der Verteilung der Geräte aussprach: „Es ist wohl verständlich, dass gerade der geistig arbeitende Blinde das grösste Interesse an dem Besitze eines Radioapparates hat. Der blinde Akademiker ist, wenn er berufstätig ist, stärker durch Werbungskosten belastet als der blinde Industriearbeiter, Handwerker, Klavierstimmer usw.“. Insofern entsprachen die Bedürfnisse, die die blinden Hörerinnen und Hörer dem Rundfunk entgegenbrachten, wohl in besonderer Maße der Programmgestaltung, denn Unterhaltung, geistige Erbauung und Bildung standen in den Anfangsjahren des deutschen Radios eindeutig im Mittelpunkt [5]

Den Funktionswandel, den der Hörfunk in Deutschland wenige Jahre später erleben sollte, illustriert eine Begebenheit aus der Arbeitsanstalt Brauweiler [6]: Am 16. Februar 1933, also nur gut zwei Wochen nach der sogenannten Machtergreifung, meldete der nationalsozialistische „Westdeutsche Beobachter“ polemisierend, „daß in der Anstalt in Brauweiler – wo man sonst dem Rundfunk nicht abhold ist – die Rede des deutschen Reichskanzlers Adolf Hitler nicht nur den Insassen, sondern auch den Beamten unterschlagen“ worden sei. Direktor Scheidgen sah sich sofort in der Defensive und teilte nach Düsseldorf mit: „Um Streitigkeiten und Unfrieden in der Anstaltsbevölkerung zu vermeiden, wird grundsätzlich jede Partei-Politik ausgeschaltet. Dementsprechend ist auch die Uebertragung der Reden der Parteiführer, die vor der letzten Reichstagswahl durch den Rundfunk verbreitet wurden, in der Anstalt nicht übertragen worden. Wohl sind in der letzten Zeit die Reden des Reichspräsidenten und Reichskanzlers zugelassen worden, soweit sie vor Einschluß stattfanden. Entsprechend sollte auch die Rede des Reichskanzlers Hitler behandelt werden.“ Lediglich in einem Gebäude habe der aufsichtführende Hauptwachmeister die Rede irrtümlich abgeschaltet, was der Direktor ausdrücklich missbilligt habe. Die Angelegenheit sei unverzüglich klargestellt und für die Zukunft „das Erforderliche veranlaßt worden“. Die Entwicklung des Radios zu einem zentralen Medium nationalsozialistischer Propaganda und politischer Agitation deutet sich hier bereits an.

Bearbeitung: Dr. Manuel Hagemann

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[1] Vgl. hierzu Jürgen Wilke: Grundzüge der Medien- und Kommunikationsgeschichte. Von den Anfängen bis ins 20. Jahrhundert. Köln/Weimar/Wien 2000, S. 330

[2] ALVR 7794

[3] ALVR 7878

[4] Hier zitiert nach Hans Jürgen Koch/Hermann Glaser, Ganz Ohr: Eine Kulturgeschichte des Radios in Deutschland, Köln/Weimar/Wien 2005, S. 1

[5] Vgl. hierzu insgesamt Koch/Glaser, Ganz Ohr

[6] ALVR 8162 fol. 267-271


Benutzte Quellen:

ALVR, 5 PV, Nr. 7794 "Radio-Anlage Bd. 1"

ALVR, 5 PV, Nr. 7878 "Rundfunkeinrichtungen für Blinde Bd. 1"

ALVR, 7 PV, Nr. 8162 "Allgemeiner Dienstbetrieb"

Benutzte Literatur:

Wilke, Jürgen: Grundzüge der Medien- und Kommunikationsgeschichte. Von den Anfängen bis ins 20. Jahrhundert. Köln/Weimar/Wien 2000.

Koch, Hans Jürgen und Hermann Glaser: Eine Kulturgeschichte des Radios in Deutschland. Köln/Weimar/Wien 2005.

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