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4. Juni 2021

75-jähriger Geburtstag von Pietje 5 – Eine Kuh auf dem Erlenhof in Euskirchen

Heute vor 75 Jahren wurde Pietje 5, Nr. 173731, in Slappeterp, einem kleinen Dorf in der niederländischen Provinz Friesland, geboren. Sie war das Kalb des Deckbullen Folkert und der Kuh Pietje, deren Namen sie erbte. Ihr Züchter J. Terpstra ließ sie am 14. März 1953 in „Het Friesch Rundvee-Stamboek“ – dem friesischen Rinder-Herdbuch – eintragen und einen Abstammungsnachweis anfertigen. Anderthalb Jahre später errang Pietje 5 bei dem einzigen Rinderzuchtwettbewerb, an dem sie je teilgenommen hat, gleich den vierten Platz. Kurz vor ihrem neunten Geburtstag verkaufte ihr Züchter Pietje 5 dann am 1. Juni 1955 an das Rheinische Landesjugendheim Erlenhof in Euskirchen für 1450 Niederländische Gulden.[1]

Nun stellt sich die Frage, weshalb ein Rheinisches Landesjugendheim Interesse am Kauf von Kühen hatte. Landwirtschaftliche Nutzflächen waren, wie in vielen weiteren Landesjugendheimen und anderen Einrichtungen des Landschaftsverbandes, lange Zeit ein integraler Bestandteil des Erlenhofes; sie wurden unter anderem auch für die Haltung von Kühen genutzt. Im Gründungsjahr des Landschaftsverbandes Rheinland 1953 besaß dieser 1444,96 ha Grundeigentum, wovon 1161,56 ha auf Landwirtschaft und Forsten entfielen. Knapp 20% der Gesamtfläche gehörten zur Jugendwohlfahrt.[2]


Der Erlenhof in Euskirchen wurde 1914 vom Provinzialverband der Rheinprovinz errichtet. 1921 wurde er in Betrieb genommen, und es lebten bald ca. 500 Personen auf dem Erlenhof. Wegen seiner ländlichen Lage glich er einem autarken Dorf: Neben Unterkünften für die Zöglinge und Angestellten gab es eine eigene Kirche, Werkstätten, Wirtschaftsgebäude, eine Gärtnerei und schließlich einen eigenen Gutshof, dem ein Gutshofverwalter vorstand und der die landwirtschaftliche Arbeit koordinierte und beaufsichtigte. Die Gebäude waren um einen großen Platz angeordnet.[3]


Die Landwirtschaft besaß im Bereich der Landesjugendheime mehrere Funktionen. In erster Linie diente sie der Versorgung der Zöglinge und des Personals. Was darüber hinaus produziert wurde, konnte gewinnbringend verkauft werden. Die Arbeit der Zöglinge in der Landwirtschaft war letztendlich auch ein Mittel der Jugendheimleiter die Zöglinge zu beschäftigen; zumal harte Arbeit den Charakter formen und die Kinder und Jugendlichen auf den „richtigen Weg“ bringen sollten.[4]

Ein Teil der landwirtschaftlichen Aufgaben fand in den Stallungen statt, in denen hauptsächlich Großvieh gehalten wurde. Lange Zeit bestand sogar die Möglichkeit für Zöglinge dort eine Ausbildung zum Melker zu machen, einem Beruf, der aber schon kurz nach dem Zweiten Weltkrieg veraltet war und obsolet wurde. Die Größe des Euskirchener Viehbestandes bei der Ankunft von Pietje 5 1955 ist nicht exakt nachzuvollziehen, aber sowohl die Euterprüfungen als auch die Herdbucheinträge für die Jahre 1956 bis 1958 können zumindest Hinweise auf eine ungefähre Anzahl geben. Die Gesundheitsprüfungen der Euter wurden 1955 bei insgesamt 26 Kühen von einer Molkerei in Euskirchen-Kuchenheim durchgeführt.[5] Ob alle Kühe des Erlenhofes getestet wurden, ist unklar, aber die Bullen fehlten bei der Prüfung mit Sicherheit. Die Herdbucheintragungen zwischen 1956 und 1958 zeigen, dass es 19 Eintragungen des Erlenhofs über neugeborene Kälber oder gekaufte Kühe und Bullen in diesen Jahren gab.[6] Aus einem Vermerk geht aber auch hervor, dass es eine Nachtragung wegen der Anerkennung der Nachzucht gab, so dass davon auszugehen ist, dass nicht alle Rinder dort eingetragen worden sind. Nach diesen Hinweisen ist die Gesamtzahl dennoch schwierig einzuschätzen, aber in der Annahme, dass die Rinder auch regelmäßig geschlachtet wurden, darf von einem Bestand im mindestens niedrigen bis mittleren zweistelligen Bereich ausgegangen werden.

Die Bedeutung des Viehbestandes und dessen Güte für den Erlenhof geht neben der Größe aber auch aus der Mitgliedschaft des Erlenhofs beim Rheinischen Verband für Schwarzbunt-Rinderzucht e.V. und beim Kreisrinderzuchtverein Euskirchen hervor. Das Zuchtziel des erstgenannten Vereins war ein „gesundes, fruchtbares, futterdankbares, im mittleren Rahmen stehendes Rind mit Adel und harmonischen Körperformen, welches zu hohen Dauerleistungen und guter Mastfähigkeit veranlagt ist.“[7] Das Interesse des Erlenhofs am Verein dürfte neben einheitlichen Zuchtmaßstäben auch im Austausch mit anderen Züchtern, Kontakten zum Kauf und Verkauf von Rindern und der Mitarbeit an einer Preisbildung aller Erzeugnisse der Rinderhaltung bestanden haben.[8]


Am 9. Juni 1971 schließlich stellte der Landschaftsverband nach einem Beschluss des Landschaftsausschusses vom 9. Juni 1971 die eigenständige Bewirtschaftung fast aller landwirtschaftlichen Nutzflächen des LVR ein und verpachtete diese. Der Hauptgrund dafür war die fehlende Rentabilität, die auch als einziges Argument im Beschluss angeführt wurde.[9] In der Tat war es so, dass sich die Ausgaben für Landwirtschaft, Gärtnerei und Arbeitsbetriebe der Rheinischen Landesjugendheime von 567.000 DM 1954 auf 2.362.000 DM 1971 erhöht hatten, während die Einnahmen in derselben Zeit lediglich von 935.000 DM auf 1.198.000 DM gestiegen sind.[10]

Es gab aber weitere Gründe, die dem Erlenhof und den anderen Landesjugendheimen die Trennung von der Landwirtschaft vermutlich erleichterten. Zum einen vollzog sich seit den 1950ern eine Modernisierung des Arbeitsmarktes, die dazu führte, dass die früheren Ausbildungsstellen in der Landwirtschaft als Melker oder in der Werkstatt als Schneider, die der Erlenhof bisher angeboten hatte, durch Ausbildungen zum Schlosser oder den Lehrgang Metall ersetzt wurden.[11] Zum anderen wandelte sich seit den 1950ern die Versorgung der Zöglinge in den Jugendheimen. Es ging zunehmend mehr um eine ausgewogene und gesunde Ernährung statt einer hohen Anzahl Kalorien. Zudem wurde 1956 das Prinzip der kostendeckenden Pflegesätze im Landesjugendamt Rheinland eingeführt, was eine Unabhängigkeit von der eigenen Verpflegung gewährte.[12]

Mit dem Ende der selbstständig geführten Landwirtschaft zum 1. Januar 1972 ging dann auch die Kündigung der Mitgliedschaft in den Rinderzuchtvereinen einher. Von Pietje 5 wissen wir nur noch, dass sie kurz nach ihrer Ankunft auf dem Erlenhof im Sommer 1955 ein Kalb geworfen hat, danach verliert sich ihre Spur.[13] Wir wissen leider nicht, ob sie geschlachtet wurde oder ein friedvolles Leben auf dem Erlenhof verbracht hat, aber heute wäre sie 75 Jahre alt geworden.

Bearbeitung: Janis Beer

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[1] Vgl. Archiv des Landschaftsverbandes Rheinland (ALVR), 491 Rh. Landesjugendheim Erlenhof, Euskirchen, Nr. 23903.

[2] Vgl. Landschaftsverband Rheinland (Hrsg.), Leistung in Zahlen. 1954-1964, S. 235.

[3] Vgl. Andreas Henkelmann/Uwe Kaminsky/Judith Pierings (et al.), Verspätete Modernisierung. Öffentliche Erziehung im Rheinland – Geschichte der Heimerziehung in Verantwortung des Landesjugendamtes (1945-1972) (Rheinprovinz. Dokumente und Darstellungen zur Geschichte der rheinischen Provinzialverwaltung und des Landschaftsverbandes Rheinland 19), S. 186.

[4] Vgl. ebd., S. 327-329.

[5] Vgl. ALVR, 491 Rh. Landesjugendheim Erlenhof, Euskirchen, Nr. 23903.

[6] Vgl. ebd.

[7] Ebd.

[8] Vgl. ebd.

[9] Vgl. ALVR, 06 Büro der LV, 01.-10. LV, Nr. 21912, Niederschrift über die 16. Sitzung des Landschaftsausschusses vom 09.06.1971, S. 12-14.

[10] Vgl. Landschaftsverband Rheinland (Hrsg.), Leistung in Zahlen. 1954-1964, S. 107f. und Landschaftsverband Rheinland (Hrsg.), Leistung in Zahlen. 1965-1975, S. 162f.

[11] Henkelmann/Kaminsky/Pierings, Verspätete Modernisierung, S. 338-342.

[12] Vgl. ebd., S. 463-465.

[13] Vgl. ALVR, 491 Rh. Landesjugendheim Erlenhof, Euskirchen, Nr. 23903.


Benutzte Quellen

Archiv des Landschaftsverbandes Rheinland (ALVR), 491 Rh. Landesjugendheim Erlenhof, Euskirchen, Nr. 23903

ALVR, 06 Büro der LV, 01.-10. LV, Nr. 21912, Niederschrift über die 16. Sitzung des Landschaftsausschusses vom 09.06.1971

Benutzte Literatur

Landschaftsverband Rheinland (Hrsg.), Leistung in Zahlen. 1954-1964

Andreas Henkelmann/Uwe Kaminsky/Judith Pierings (et al.), Verspätete Modernisierung. Öffentliche Erziehung im Rheinland – Geschichte der Heimerziehung in Verantwortung des Landesjugendamtes (1945-1972) (Rheinprovinz. Dokumente und Darstellungen zur Geschichte der rheinischen Provinzialverwaltung und des Landschaftsverbandes Rheinland 19)

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