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02. September 2021

Professionelle Überlieferungsbildung und funktionierende Schriftgutverwaltung als Notfallprävention

In der Katastrophe erweist sich der unschätzbare Wert archivarischer Grundlagenarbeit

Die Auswirkungen der verheerenden Unwetter Mitte Juli auf Archive und Kultureinrichtungen sind inzwischen bekannt. In den besonders hart getroffenen Kommunen werden in den nächsten Jahren umfangreiche, aufwendige Wiederaufbau- und Restaurierungsarbeiten vonnöten sein. In vielen anderen Archiven wird man sich Gedanken machen müssen, ob die eigenen Vorbereitungen für den Notfall ausreichen und ob nicht doch bauliche Veränderungen oder zusätzliche Investitionen in Notfallprävention und fachgerechte Verpackung notwendig sind. Hier bedarf es dringend zusätzlicher Anstrengungen aller beteiligten Akteure. Zugleich haben alle diese Maßnahmen aber gemeinsam, dass sie sich in der Regel nur mittelfristig umsetzten lassen und oft kostenintensiv sind.

Demgegenüber gibt es zwei Maßnahmen, die ebenso wichtig sind, „eigentlich“ zum archivischen Tagesgeschäft gehören und sich weitgehend kostenneutral umsetzen lassen: Professionelle Überlieferungsbildung sowie Sorge um eine funktionierende Schriftgutverwaltung. Es gilt Bewertungsrückstände zu vermeiden. Die Archivar*in vor Ort muss eine klare Vorstellung davon haben, was in „ihren“ Altregistraturen „schlummert“, was gegebenenfalls archivwürdig ist und – vor allem – wo sich diese Unterlagen befinden. Im Notfall ist es in der Regel nicht möglich, in jedem Fall aber unwirtschaftlich „alles“ zu retten. Der Fokus muss auf den tatsächlich archivwürdigen und aus rechtlichen Gründen zwingend aufzuhebenden Unterlagen liegen. Am Beispiel von drei der Kommunen, in denen der Verfasser im Zuge der Hilfsarbeiten selbst im Einsatz war und „Notbewertungen“ vorgenommen hat, lässt sich dies belegen. Rheinbach, Swisttal und Bad Münstereifel sind Beispiele für Kommunen, wo diese Vorbedingungen erfüllt waren und Notfalleinsätze trotz z.T. schon vor den Unwettern prekärer konservatorischer Rahmenbedingungen erfolgreich zu einem vorläufigen Abschluss gebracht werden konnten. In zwei anderen Verwaltungen, mit denen der Verfasser befasst war, gestaltete sich die Situation deutlich komplexer.

In den beiden Kommunen im linksrheinischen Rhein-Sieg-Kreis waren nicht die eigentlichen Stadtarchive von den Unwetterschäden betroffen, dafür wiesen die städtischen Registraturen in den Kellern der Rathäuser massive Wasserschäden auf. Weil der Stadtarchivar sehr konkrete Vorstellungen hatte und klar kommunizieren konnte, war es in Rheinbach einem Team von maximal fünf Kolleginnen aus den Stadtarchiven Bornheim, Siegburg und dem LVR-AFZ innerhalb von zwei Tagen möglich, die in Mitleidenschaft gezogenen Bestände „durchzubewerten“.

In Swisttal stellte sich die Situation noch dramatischer dar, da neben Wasser auch Schlamm in die Altregistraturen eingedrungen war. Auch hier gelang die Notbewertung jedoch innerhalb von drei Tagen weitgehend reibungslos. Vorbedingung war neben dem hohen persönlichen Einsatz der Stadtarchivarin und der Unterstützung von zahlreichen Kolleg*innen aus der Region die Tatsache, dass der Archivarin die bereits vor den Unwettern prekäre Situation in den Aktenkellern des Rathauses bewusst war und sie sich seit Jahren aktiv um eine Verbesserung bemühte. Die Unterlagen, ihre Inhalte und Standorte waren bestens bekannt. Alle für eine Notbewertung erforderlichen Informationen lagen vor, sodass neben den Anliegen des Archivs zum Teil auch solchen der Bauverwaltung entsprochen werden konnte.

Bad Münstereifel zählte zu den Orten, in denen das Archiv selbst katastrophal getroffen worden ist. Dennoch war es auch hier zwei Archivar*innen des LVR AFZ gemeinsam mit einer Anwärterin möglich, nicht nur die eigentlichen Archivbestände zu retten, sondern auch Unterlagen geringeren Alters innerhalb von vier Tagen einer Notbewertung zu unterziehen. Hilfreich war hier ebenso wie in Swisttal und Rheinbach, dass der Stadtarchivar die Unterlagen, ihre Inhalte und Standorte bestens kannte. Hinzu kam aber auch, dass sich hier die Existenz einer Art „Zwischenarchiv“ in der Katastrophe als Lichtblick erwies. Nur weil sich das Registraturgut gebündelt an einem Ort befand, war es den Mitarbeitenden des LVR-AFZ möglich, die Notbewertung in Absprache mit dem Stadtarchivar durchzuführen.

Wo es bereits an dieser räumlichen Konzentration mangelte oder das Archiv erst seit Kurzem neu bzw. fachlich besetzt war, erwies sich die Entscheidung zwischen zu rettendem und zu kassierendem Archivgut als deutlich schwieriger. Dies gilt insbesondere dann, wenn aufgrund gewaltiger Mengen wie in den vergangenen Monaten fast überall auf die Unterstützung von externen Fach- und Hilfskräften zurückgegriffen werden muss. Idealiter sollte Registraturgut vor Ablauf von Aufbewahrungsfristen bewertet sein. Wo dies der Fall ist, bietet es sich an, die entsprechenden Informationen nicht „nur“ elektronisch vorzuhalten, sondern jeden einzelnen Ordner oder Karton optisch zu kennzeichnen. Elektronische Erschließungsinformationen sind – insbesondere bei unsachgemäßer Speicherung – hochgradig gefährdet. Zudem sind sie nach dem Zusammenbruch von Strom- und Kommunikationsnetzen häufig nicht mehr zugänglich.

Fazit: Professionelle Überlieferungsbildung und funktionierende Schriftgutverwaltung sind zentrale Eckpfeiler gelingenden Krisenmanagements. Wenn archivwürdige Unterlagen außerhalb des Archivs lagern, muss dem/der Archivar*in dies zumindest bewusst sein. Es bedarf Klarheit bezüglich der eigenen Überlieferungsziele sowie des Zustandes und der Funktionsweise der (städtischen) Schriftgutverwaltung. Es sind nicht nur vertiefte Kenntnisse des „klassischen“ Archivs, sondern auch der Altregistraturen erforderlich. Im Idealfall gibt es keine oder nur sehr kleine Überlieferungsrückstände, und Registraturgut ist optisch als kassabel oder archivwürdig gekennzeichnet. Die Existenz eines Zwischenarchivs erweist sich als Vorteil.

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